Hexenseelen - Roman
nicht. Auch Ylva verharrte oben an der Treppe, ohne zu wissen, was sie tun sollte, wie sie dieses Fremde und Unnahbare in ihm überwinden konnte.
»Ich kann dich spüren«, hallte Conrads Stimme durch die Halle und verklang unter der kuppelähnlichen Decke. Hart? Gleichgültig? Oder doch mit einem Gefühl, das er selbst nicht merkte oder zu leugnen versuchte? »Ich brauche nichts, es geht mir bestens. Du kannst gehen.«
Stufe um Stufe stieg Ylva die Treppe hinunter, bewegte sich über die Fliesen der Eingangshalle wie auf Eis. Sie würde es schaffen.
Schaffen? Was? , spottete der Dämon, und in diesem Augenblick hasste sie ihn mehr denn je.
Ihm nahe zu sein. Ihn zu lieben.
»Geh«, befahl Conrad wieder.
Und sie ging. Ging zu ihm. Beinahe von selbst hob sich ihre Hand und berührte seine Schulter, vorsichtig und bange, in der Befürchtung, jeden Moment zurückgestoßen zu werden. Conrad wandte sich ab und senkte den Kopf. Wie damals in seiner demolierten Wohnung fielen ihm die Strähnen in die Stirn und warfen dunkle Schatten auf seine fahle Haut. Aber das, womit er zu kämpfen schien, war nicht das Monster in ihm. Und wenn doch, so wäre Ylva auch dann nicht geflohen, sondern
bei ihm geblieben, auch wenn sein Kuss ihr den Tod bringen sollte.
Doch Conrad küsste sie nicht. Er entzog sich ihrer Berührung. Ylva starrte auf seinen Rücken. War es tatsächlich zu spät? Erneut legte sie ihm die Hand auf die Schulter und merkte, wie er sich anspannte, diesmal aber nicht zurückwich.
Gibt es dich noch?, fragte sie ihn stumm. Irgendetwas von dir, was ich lieben kann? Oder habe ich dir nur diese Hülle gelassen?
»Geh …«
Ihre Ohren zuckten, doch vermochte sie nicht zu entscheiden, ob in seinem Ton irgendeine Spur von Gefühl mitschwang. Sie strich ihm über den Arm, fuhr über seine Hand und suchte - nicht ohne Scheu - die Stelle, an der der Finger fehlte. Sie wagte es nicht, seine verkrüppelte Hand anzuschauen. Geschweige denn, ihm ins Gesicht zu blicken, die Sonnenbrille zu sehen und zu wissen, was diese verbarg. Würde sie irgendwann die Kraft dazu aufbringen? Oder stets zusammenzucken, sobald sie auf die Spuren dessen, was ihm angetan worden war, stieß?
»Geh … bitte«, flüsterte Conrad.
Ylva versuchte, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken. Würde er wirklich wollen, dass sie ging, würde er sich dann nicht aus ihrem Griff befreien, sie von sich stoßen, sie davonjagen? Fest hielt sie seine Hand, schmiegte sich an ihn und fühlte seine Wärme mit ihrem ganzen Körper. Der Hauch des Todes erinnerte sie an das
Monster, das in ihm lauerte. Doch sie missachtete die Warnung ihrer Instinkte und unterdrückte den Drang, ihm zu entkommen.
»Warum?«, flüsterte sie.
»Weil ich deinen Schmerz spüren kann.«
»Und?«
»Und ich nicht stark genug bin, ihn zu ertragen.«
»Dann sind wir wohl schon zu zweit.« Ylva dachte an die Zeit zurück, als ihr gerade bewusst geworden war, dass sie sich verliebt hatte. An das Flattern in ihrem Bauch, an das Herzklopfen, sobald sie Conrad sah oder an ihn dachte. Diese Zeit schien Ewigkeiten zurückzuliegen, obwohl in Wirklichkeit kaum ein paar Wochen vergangen waren. Sie liebte ihn immer noch, nur ohne Flattern und Herzklopfen. Das Gefühl war tiefer geworden und vor allem wehmütiger.
Da er immer noch nicht zurückwich und ihre Nähe duldete, lehnte sie sich mit einer Wange an seine Brust. »Es ist nicht leicht, dich zu lieben. Aber ich liebe dich.«
Sie wusste nicht, was jetzt passieren würde. Andererseits … warum sollte auch etwas geschehen? Alle Wahrheiten klangen so einfach und selbstverständlich. Die Erde drehte sich. Die Sonne ging jeden Tag auf. Und Ylva … Sie lächelte. Ylva liebte Conrad. Einen Mörder. Einen Untoten.
Sein Arm legte sich um sie, behutsam, als wäre sie eine kostbare Vase. »Sag so etwas nicht.«
»Muss ich auch nicht. Du kannst es doch spüren, oder nicht?«
»Ja. Ich kann so vieles spüren. Jetzt, wo du da bist.« Sein Atem strich über ihr Haar. Sie fröstelte, so sehr schrillten ihre Alarmglöckchen: zu nah, zu gefährlich! Zu schön, um wahr zu sein.
Ylva spürte, wie er sein Gesicht zu ihr neigte, wie das kalte Gestell der Sonnenbrille ihre Haut streifte. Sie grub eine Hand in sein Haar und drückte sich fester an ihn. Sie wollte mehr, mehr von ihm, von seiner Nähe, sogar mehr von der Furcht, die der Hauch des Todes in ihr auslöste.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, zog ihn an sich und suchte seine Lippen. Er
Weitere Kostenlose Bücher