Hexenstunde
jetzt bemerkte sie eine hohe Vase mit Rosen auf dem Tisch. Ob Gerald sie dort hingestellt hatte?
Sie blieb stehen und betrachtete die wunderschönen, schweren Blüten, allesamt blutrot; sie erinnerten fast an die vollkommenen Blumenarrangements für die Toten, dachte sie – als habe sie jemand aus den prachtvollen Gebinden auf dem Friedhof genommen.
Und es überlief sie kalt, als sie an Lasher dachte. Blumen zu Deirdres Füßen. Blumen am Grab. Für einen Augenblick war sie so heftig erschrocken, daß sie wieder ihr Herz hören konnte, das in der Stille pochte. Aber was für eine absurde Idee – wahrscheinlich hatte Gerald den Strauß hier aufgestellt, oder Pierce, als er die Matratzen besorgt hatte. Das hier war schließlich eine ganz gewöhnliche Vase, halb gefüllt mit frischem Wasser, und die Rosen waren einfache Rosen aus dem Blumenladen.
Dennoch sah das Ganze gespenstisch aus. Ja, während ihr Herz sich allmählich wieder beruhigte, sah sie, daß der Strauß etwas entschieden Merkwürdiges an sich hatte. Sie war keine Expertin für Rosen, aber waren sie nicht gemeinhin kleiner? Wie groß und schlaff diese Blüten aussahen. Und diese dunkle Blutfarbe. Und sieh nur die Stiele und die Blätter… Rosenblätter waren doch immer mandelförmig, oder nicht? Und diese Blätter hier hatten zahlreiche Spitzen. Genaugenommen fand sich in dem ganzen Bouquet kein einziges Blatt, das das gleiche Muster oder ebenso viele Spitzen wie irgendein anderes hatte. Es sah aus wie etwas wild Gewuchertes, genetisch Verwildertes, voller beliebiger und überwältigender Mutationen.
Sie schüttelte den Kopf. Ihr war ein wenig schwindlig.
Sie ging weiter nach vorn und versuchte, das Gefühl des Wohlseins wieder einzufangen, und sie atmete die satte Wärme ein. Fast wie ein Tempel, dieses Haus. Sie schaute zurück zur Treppe. Dort, ganz oben, hatte Arthur damals Stuart Townsend gesehen.
Na, jetzt war da niemand.
Niemand. Niemand im langgestreckten Salon. Niemand da draußen auf der Veranda, wo die Ranken über das Fliegengitter krochen.
Niemand.
»Hast du Angst vor mir?« fragte sie laut. Es verschaffte ihr eine seltsame, kribbelnde Erregung, diese Worte laut auszusprechen. »Oder hast du erwartet, daß ich Angst vor dir habe, und ärgerst dich jetzt, weil es nicht so ist? Das ist es, ja?«
Mit leisem Lächeln ging sie zu den Rosen zurück, zog eine aus der Vase und hielt sie sanft an die Lippen, um die seidigen Blütenblätter zu fühlen. Dann ging sie zur Haustür hinaus.
Es war wirklich nur eine riesige Rose – und schau nur, wie viele Blütenblätter und wie seltsam wirr sie angeordnet sind. Und das Ding verwelkte schon.
Ja, die Blütenblätter kräuselten sich braun an den Rändern. Für einen langgezogenen Moment genoß sie noch den süßen Duft. Dann warf sie die Rose in den Garten und ging zum Tor hinaus.
Dritter Teil
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Komm
in meine Stube
33
Der Wahnsinn der Renovierung begann am Donnerstag morgen, aber schon am Abend zuvor, beim Dinner in Oak Haven mit Aaron und Rowan, hatte er angefangen zu umreißen, welche Schritte er unternehmen würde. Was das andere anging, das Grab und all seine Gedanken darüber, über die Tür und die Zahl dreizehn – die standen jetzt in seinem Notizbuch, und er wollte sich nicht länger damit befassen.
Der ganze Ausflug zum Friedhof war eine finstere Sache gewesen. Der Morgen war freilich schön gewesen, auch wenn Wolken am Himmel standen, und es hatte ihm Spaß gemacht, mit Aaron dort hinzugehen: Aaron hatte ihm gezeigt, wie er einige der Empfindungen, die durch seine Hände drangen, blockieren konnte. Er hatte es geübt: Er war ohne Handschuhe gegangen und hatte hier und da Torpfosten angefaßt oder Zweige aufgehoben, und er hatte die Bilder abgeschaltet, ganz so, wie man einen schlimmen oder obsessiven Gedanken abschaltet, und zu seiner Überraschung hatte es mehr oder weniger funktioniert.
Aber dann der Friedhof. Er war ihm ein Greuel gewesen; die ganze zerbröckelnde romantische Schönheit hatte er gehaßt, und den großen Haufen welkender Blumen von Deirdres Beerdigung, der die Gruft noch immer umgab, hatte er ebenfalls gehaßt. Und nicht zuletzt das gähnende Loch, in dem man Carlotta Mayfair bald, wie man so sagte, zur Ruhe betten würde.
Und als er dagestanden und in einem halbwegs benommenen, elenden Zustand festgestellt hatte, daß die zwölf Grabkammern der Gruft und die Schlüssellochtür, die den Giebel
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