Himmel uber Langani
ihr nur das eine im Sinn. Bei den Nonnen war es dasselbe, bloß umgekehrt. Die Frage lautete nur Sex oder Enthaltsamkeit.«
»Daran hat sich nichts geändert«, erwiderte er schmunzelnd. »Schön, dass ich dich wiedersehe und noch eine Chance bekomme. Was hast du in den letzten Jahren gemacht? Ich weiß, dass du in Florenz warst, während deine Eltern in Rom gelebt haben. Aber du bist nicht oft hier gewesen.«
Wenn Camilla später an diesen Abend zurückdachte, erinnerte sie sich hauptsächlich daran, wie Marina gestrahlt hatte. Trotz ihrer Hinfälligkeit ging ein seltsames Leuchten von ihr aus, das Camilla an die eigentümliche Aura einer Schwangeren erinnerte, die ein neues Leben in sich trug. Es erstaunte sie, wie gelassen ihre Mutter die Gewissheit ihres baldigen Todes auf sich nahm. Das freudige und gleichzeitig traurige Willkommen, das ihr bereitet wurde, bewegte Camilla sehr. Niemals hätte sie gedacht, dass Marina so von ihren Freunden geliebt wurde. Offenbar kannte sie ihre Mutter nicht so gut, wie sie glaubte.
»Morgen Mittag um zwölf hole ich euch im Hotel ab, falls es euch recht ist«, sagte Claudia und suchte im Gesicht ihrer Freundin nach Spuren von Erschöpfung. »Du darfst morgen bei unserer Feier nicht zu müde sein, Marina, cara. Am besten rufen wir euch jetzt ein Taxi.«
»Nein, ich würde gerne ein paar Schritte gehen«, widersprach Marina. »Es ist so mild draußen, und ich liebe dieses Viertel.«
Als sie die piazza erreichten, setzten sie sich kurz, damit Marina sich ausruhen konnte. Menschen schlenderten umher oder genossen an den kleinen Tischen der Straßencafés die warme Nacht. Liebespaare küssten sich zärtlich und schienen nichts wahrzunehmen als ihr eigenes Glück, während sie Arm in Arm vorbeigingen. Am samtenen Nachthimmel funkelten die Sterne und spiegelten sich in dem von Flutlicht beleuchteten Brunnen. Kurz fiel Camilla Anthony ein, aber sie schob den Gedanken beiseite und nahm Robertos Hand.
Am nächsten Morgen schlief Marina lange. Daher war sie noch nicht fertig, als der Wagen kam.
»Geh schon einmal hinunter zu Claudia«, sagte sie zu Camilla. »Ich brauche noch zehn Minuten. Inzwischen bin ich schrecklich langsam, und wenn jemand zuschaut und wartet, ist es noch schlimmer.«
»Kein Problem«, meinte Claudia. »Sie soll sich ruhig Zeit lassen. Wir warten an der Bar auf sie. Was möchtest du trinken?«
»Espresso, bitte«, erwiderte Camilla.
»Alles, alles Gute für dich, meine Liebe. Ich wünsche dir, dass in deinem Leben nur Schönes passiert.«
»Danke.«
»Ich weiß, dass es zurzeit nicht leicht für dich ist. Du solltest mit Gleichaltrigen zusammen sein und feiern, dass du einundzwanzig Jahre alt und wunderschön bist und am Anfang all deiner Träume stehst. Aber leider ist deine Mutter ausgerechnet jetzt so schwer krank geworden.«
»Irgendwie erwische ich immer den falschen Zeitpunkt.«
»Doch die Zeit arbeitet für dich, und nur das zählt.«
»Wie meinst du das?« Inzwischen bereute Camilla, dass sie zu Claudia hinuntergegangen war. Ihr kam der Verdacht, dass Marina und ihre alte Freundin etwas ausgeheckt hatten. Bestimmt sollte Claudia ihr jetzt ein paar praktische Ratschläge fürs Leben geben.
»Du kanntest meine Tochter nicht«, fuhr Claudia fort. »Sie war so jung und schön wie du, sie strotzte vor Lebensfreude und hatte so viele Pläne. Ständig stritt sie mit ihrem Vater und mir, weil sie ihr Studium abbrechen und nicht so sein wollte wie ihre Freunde. Sie sehnte sich nach Unabhängigkeit und einem freien Leben und wollte weg von uns, so wie alle jungen Leute, die ihren Eltern den Rücken kehren, weil wir so altmodisch und weltfremd sind. Vor zwei Jahren ist sie nach Indien gegangen. Eines Tages fuhr sie ab, ohne uns ein Wort zu sagen. Wir hatten nicht einmal Gelegenheit, uns von ihr zu verabschieden.«
»Einige meiner Freundinnen in London haben das auch getan«, versuchte Camilla sie zu trösten. »Heutzutage ist es Mode, sich einen Guru zu suchen und eine andere Lebensweise auszuprobieren. Aber für die meisten ist es nur eine Phase, die irgendwann vorbeigeht. Das gibt sich wieder.«
»Bei Gina wird das leider nicht geschehen. Drei Wochen nach ihrer Ankunft dort starb sie bei einem Unfall. Wir werden nie wieder Gelegenheit haben, ihr zu sagen, wie sehr wir sie lieben.«
»Das tut mir Leid. Wie schrecklich …« Camilla verstummte.
»Deine Mutter war mir eine große Hilfe«, fuhr Claudia fort. »Sie kannte sich aus mit Töchtern, die
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