Himmelsdiebe
die Hoffnung nicht auf. Vielleicht würde eines Tages ja doch noch ein Wunder geschehen, und seine Worte würden wahr.
Ein leises Winseln aus dem Atelier weckte sie aus ihren Gedanken. Das musste Nscho-tschi sein, die kleine Terrierhündin, die Harry vor ein paar Wochen auf der Straße aufgelesen hatte. Er war so begeistert von der Kunst der Indianer, dass er nicht nur ein Vermögen dafür ausgab, das Haus mit Totempfählen, Masken und Kachinapuppen vollzustelle n – er hatte sogar seinen Hund auf einen indianischen Namen getauft!
Wieder drang das Winseln über den Flur. Wahrscheinlich war Nscho-tschi aufgewacht und fühlte sich einsam. Debbie verließ ihren Schreibtisch und trat durch die Tür, die den Wohnbereich von dem Atelierstrakt trennte. Mit freudigem Kläffen sprang Nscho-tschi an ihr hoch.
»Na, hast du schon ausgeschlafen?«
In dem Atelier sah es aus wie im Saustall. Überall standen überquellende Aschenbecher herum, auf dem Boden lagen leere Weinflaschen. Während Nscho-tschi hinaus auf den Flur in Richtung Fressnapf wischte, fing Debbie an aufzuräumen. Die Unordnung in dem Raum war ihr ein Gräuel, sie war ein Spiegelbild von Harrys Verfassung, seit Laura in New York aufgetaucht war. Die meisten Tage verbrachte er seitdem in einem Zustand zwischen Depression und Trance. Entweder malte er wie ein Besessener, oder aber er saß stundenlang am Fenster und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Obwohl er eitler war als jeder andere Mann, den Debbie kannte, vernachlässigte er sein Äußeres. Oft lief er bis zum Abend im Schlafanzug herum, und er rasierte sich nur, wenn er das Haus verließ. Erschien er aber zum Essen im Anzug, frisch rasiert und parfümiert, wusste Debbie, dass sie den Rest des Tages ohne ihn verbringen würde. Den Rest des Tages und meistens auch die Nacht.
Plötzlich zuckte sie zusammen. Von der Staffelei blickten zwei tiefschwarze Augen auf sie herab: Laura. Fast auf jedem Bild, das Harry malte, prangte ihr Gesicht. Obwohl Debbie den Anblick kaum ertragen konnte, trat sie näher an die Staffelei heran. Was für ein wunderbares Bild. Es war eine prophetische Nachkriegslandschaft, eine Allegorie auf das zerstörte Europa, und gehörte zum Besten, was Harry je geschaffen hatte. Wie ein Engel aus einer anderen Welt erschien Laura darin, inmitten Fleisch fressenden Laubwerks. Ihre Schönheit tat Debbie in der Seele weh. Wie oft hatte sie Harry darum gebeten, einmal ein Bild zu malen, in dem auch sie vorkam. Sie brauchte diesen Beweis, dass auch sie einen Platz in seinem Herzen hatte. Irgendwann hatte er es ihr sogar versprochen. Doch bis jetzt hatte er keine Zeit für ein solches Bild gehabt: keine Zei t – oder keine Idee.
Debbie beschloss, sich ein Frühstück zu machen. Mit einem Teller Rührei und Schinken sowie einer Tasse heißen Kaffees im Bauch würde sie sich besser fühlen. Entschlossen, den Tag in Angriff zu nehmen, wandte sie sich von der Staffelei ab. Doch als sie sich umdrehte, sah sie durch die Tür zum Nebenzimmer Harrys goldenen Thronsessel. Darauf saß, wie eine Prinzessin, die rotgrüne Stoffpuppe, die er aus Lissabon mitgebracht hatte. Bei dem Anblick packte Debbie die Wut. Die verfluchte Puppe war an allem schuld! Harry behandelte sie, als wäre sie seine Tochte r – das Bindeglied, das ihn mit seiner Windsbraut verband. Sogar zu dem schrecklichen Dinner bei Laura und Roberto im mexikanischen Konsulat hatte er sie mitgenommen. Wahrscheinlich, um sich wie in einer richtigen Familie zu fühle n – mit Vater, Mutter und Kind.
Der Abend war ein einziges Fiasko gewesen. Während Harry zu Hause wie ein ruheloser Scheintoter umherirrte, ein flüchtiger Vogel in Menschengestalt, schien er in Lauras Gegenwart wunschlos glücklich. In kürzester Zeit war er wieder zu dem Mann geworden, der er einmal gewesen war: der Große Zaubere r – witzig, brillant, unwiderstehlich. Die ganze Zeit hatte er Laura mit seinen Harpo-Marx-Augen angestiert, während er die amüsantesten Anekdoten aus seinem Leben zum Besten gegeben und sich gleichzeitig über Roberto lustig gemacht hatte, dem bei der dritten Flasche Wein unvorsichtigerweise rausgerutscht war, dass er Laura vor lauter Eifersucht am liebsten in seiner Diplomatenwohnung einschließen würde, wenn er in der Stadt zu tun hatte. Harry hatte einen Witz nach dem anderen auf seine Kosten gerissen, der ganze Raum hatte von seiner Brunft gestunken wie die Besamungsstation eines Gestüts. Doch kein einziges Mal hatte er sie,
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