Himmelssucher - Roman
drehte mich um. Die Tür zu meinem Zimmer stand weit offen. Auf der Schwelle mein Vater.
Seine stämmige Silhouette zeichnete sich vor dem dunklen Flur ab, der Schein meiner Schreibtischlampe, das einzige Licht im Zimmer, erreichte kaum sein Gesicht. Trotz der tiefen Schatten sah ich seine Augen. Sie glitzerten gefährlich.
»Was machst du da?«, fragte er und klang angestrengt. Er verschliff die Worte.
»Den Koran lesen«, erwiderte ich.
»Hast du vergessen, was ich dir im Krankenhaus gesagt habe?«
Erst jetzt dämmerte mir, dass er mit dem Buch, von dem er im Krankenhauszimmer gesprochen hatte, den Koran gemeint hatte.
»Gib ihn mir«, sagte er und trat näher.
Ich zuckte zurück und drückte das Buch an mich. Mein Herz raste.
»Ich sagte, gib ihn mir!«, befahl er. Er ragte jetzt über mir auf und streckte mir die Hand hin.
»Warum?«, platzte es schließlich aus mir heraus. Meine Stimme – laut, herausfordernd – überraschte mich.
Zähneknirschend starrte er mich an. Plötzlich kam seine Faust auf mich zugeflogen. Ich duckte mich. Er traf mich am Nacken. Und dann schlug er erneut zu. Ich taumelte vom Stuhl.
Er hatte jetzt den Koran in den Händen, hielt mit der rechten Hand den Einband fest und zerrte mit der anderen an den zerknüllten Buchseiten. »Dieses gottverdammte Ding …«, fauchte er, und seine Arme und Schultern spannten sich, während er mit aller Kraft am Buch zog, bis er die Seiten aus dem Einband riss.
Mit einem Knurren schleuderte er den Umschlag zu Boden und zerrte an den gebundenen Seiten, riss so lange, bis einzelne Seiten und Papierschnipsel im Zimmer herumflatterten und sich über den ganzen Teppich verteilten. Und dann trampelte und stampfte er mit wildem Blick auf unserem heiligen Buch herum. »Du willst deinen Koran?«, schrie er. »Hier hast du deinen beschissenen Koran!« Ich hatte ihn noch nie dieses Wort sagen hören. Es klang unbeholfen aus seinem Mund, als wüsste er nicht recht, wie es auszusprechen war. »Was du machst, wenn du achtzehn bist, ist deine Sache! Aber wenn ich dich bis dahin noch einmal mit dem Koran erwische, mache ich mit dir das, was in diesem beschissenen Buch über Diebe steht! Ich werde dir deine beschissenen Hände abhacken! Alle beide!« Er deutete auf mich. »Hast du mich verstanden?«
Ich weinte. Mein Atem gehorchte mir nicht mehr, meine Kehle war wie zugeschnürt, und meine Brust wurde von Krämpfen geschüttelt.
»Hast du mich verstanden?«, brüllte er.
Ich versuchte zu nicken, aber selbst das war mir unmöglich.
» Ich sagte, hast du mich verstanden? «
»Ja …a …a …«, schluchzte ich schließlich.
»Gut«, sagte er schwer schnaufend. Ich sah zur Tür. Imran stand dort und starrte mich an.
»Wir sind noch nicht fertig«, sagte er und eilte an mein Bett, riss die Decke weg, zerrte das Laken heraus, warf es auf den Boden und begann, mit dem Fuß die einzelnen Blätter auf das Laken zu schieben. Fasziniert sah Imran zu, wie sich Vater erneut in seine Raserei hineinsteigerte, abwechselnd mit dem einen und anderen Fuß ausholte, heftig schwankte und immer wieder aufs Neue erstaunt schien, dass es nur Papier war, wonach er trat.
Als sich schließlich die herausgerissenen Seiten auf dem Laken türmten, zog er die Ecken zusammen und warf sich das Bündel über die Schulter. »Gehen wir, Hayat!«, schrie er. »Auf der Stelle!«
Ich stand auf. Meine Atmung gehorchte mir immer noch nicht.
» Wo…wohin … ge…hen … wir? «, brachte ich schließlich heraus.
»Komm!«
Imran folgte uns, während Vater mich die Treppe hinunter und in die Küche führte. Aus einer Schublade am Telefon zog er ein Feuerzeug, dann zeigte er zur Verandatür. »Raus, Hayat! Sofort!«
Es war eine trockene Nacht. Eine erste Herbstkühle lag in der Luft. Am Ende des leicht abfallenden Rasens, oberhalb der Bäume, deren Silhouetten vor dem schwarzen Himmel kaum zu sehen waren, hing eine papierdünne Mondsichel über dem Horizont. Noch immer keuchte ich. Ich blickte zum Haus zurück. Imran sah uns durch die Verandatür nach.
Vater steuerte die Stelle hinter dem Gemüsegarten an. Dort warf er das Bündel auf die Aschefläche im Gras, wo er im Frühjahr und Sommer Reisig verbrannte und im Herbst das Laub. » Nein! «, rief ich, als mir dämmerte, was er vorhatte.
Vater zog das Feuerzeug aus der Hosentasche und griff sich eine Handvoll zerrissener Koranseiten. Sein Daumen drückte auf den Zünder. Grausam lächelte er mich an, als er die dünne Flamme an das
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