Himmelssucher - Roman
Papier hielt und wartete. Erst als die Seiten tatsächlich Feuer fingen, wurde mir meine Überraschung bewusst. Ich hatte allen Ernstes erwartet, sie würden nicht brennen.
»Nichts weiter als Papier«, sagte Vater, als würde er meine Gedanken lesen. »Hat meine Schwester nicht retten können. Und kann sich selbst auch nicht retten.« Er ließ das brennende Papier auf den Haufen am Boden fallen.
Langsam fraß sich das Feuer voran, die Flammen wurden höher. Tränen schossen mir in die Augen. Das Feuer tanzte und verschwamm vor meinem Blick.
Vater schwieg.
» Du … wirst … in … die … Hölle … kommen … «, schluchzte ich.
»Gut«, sagte er.
»Gu…gut?«
Er antwortete nicht.
Die herausgerissenen Seiten krümmten sich im Feuer, die verkohlten Stellen brachen, zerkrümelten und wurden von der aufsteigenden Hitze in die Höhe getragen. Wie schwarze Schneeflocken, die in die falsche Richtung fielen, so verschwanden sie im Nachthimmel. »Wenn du irgendwas davon deiner Mutter erzählst«, warnte mich Vater, »dann, das schwöre ich, breche ich dir auch noch den anderen Arm.«
Ich sah zu, wie die Seiten verbrannten. Ich habe ihn nicht aufgehalten , dachte ich mir. Und dann fiel mir ein, was Mina immer sagte: dass es auf die innere Einstellung ankam.
Ich wandte den Blick vom Feuer ab. Ich hatte ihn nicht aufgehalten. Aber ich musste es mir auch nicht mit ansehen.
IV
MINA, DER DERWISCH
14
SUNIL, DER LÄCHERLICHE
D er Abend, an dem Vater meinen Koran verbrannte, war der Abend, an dem Mina Chathas Vetter Sunil kennenlernte. Er saß in der Ecke des Zimmers, wo sich die Männer aufhielten und wo er Mina auffiel: Er war klein, von dunkler Hautfarbe, nicht besonders attraktiv, und es war ihm anzusehen, dass er litt. Aber die Art und Weise, wie er sein Leid trug – mit Würde, ja mit Größe (so ihre Worte) –, das beeindruckte sie.
Sunil hatte allen Grund zu leiden. Seine Frau hatte ihn wegen eines weißen Amerikaners verlassen, sie hatte ihren einzigen Sohn mitgenommen und war durch das halbe Land nach Florida umgesiedelt. (Sunil lebte in Kansas City.) Seitdem war er in eine lähmende Depression verfallen, was seine Augenarztpraxis in Mitleidenschaft gezogen hatte, so dass er gezwungen gewesen war, sie zu verkaufen. Und nun war er, in der Mitte seines Lebens, hier und wohnte im Gästezimmer seines Vetters.
Er war Mina sofort aufgefallen, geweckt wurde ihr Interesse aber erst, als er beim Essen zum Gesprächsthema der Frauen wurde. Najat, Chathas Frau, erwähnte Sunils Scheidung und seine Probleme und beklagte sich über ihn: Seit Monaten wohne er jetzt bei ihnen, und vielleicht, sagte sie, sei es endlich an der Zeit, dass er sein Leben wieder selbst in die Hand nehme. Mina, überrascht über Najats harsche Worte, gab manches zu bedenken. Eine Scheidung, sagte sie, könne nur verstehen, wer sie selbst durchgemacht habe. Da aber niemand am Tisch davon ausging, einmal geschieden zu werden, war auch niemand daran interessiert, darüber zu reden. Najat wechselte unvermittelt das Thema. Und so schmorte Mina plötzlich am Ende des Tischs vor sich hin, während ihre Gefühle entflammt waren für den Mann, dessen nicht zu übersehenden Kummer sie nur allzu gut zu verstehen glaubte.
Später an diesem Abend sprach sie ihn an. Sie sah ihn auf die Veranda gehen, wo er eine Zigarette rauchte, und folgte ihm kurzerhand. Sie unterhielten sich fast eine halbe Stunde über ihre jeweiligen Scheidungen. Als Mina in die Küche zurückkehrte, tat sie etwas, von dem sie wusste, dass sie damit etwas in Gang setzte. Najat bereitete die Nachspeisen zu. Mina nahm sich eine Schale und füllte sie mit einer großen Portion Kheer, ging damit ins Wohnzimmer, wo die Männer versammelt waren, und reichte Sunil die Schale.
Vor allen anderen.
Sunil setzte sich auf und nahm linkisch die Schale und den Löffel entgegen. »Danke«, sagte er.
»Bitte«, erwiderte Mina lächelnd.
»Dein Vater ist nicht sehr glücklich über deine Islamstudien«, sagte mir Mutter ganze fünf Tage nach Vaters Wutanfall am Freitagabend. »Lass es etwas ruhiger angehen … nur für die nächste Zeit.«
Fassungslos starrte ich sie an. Ich wusste, dass Vater ihr am Wochenende etwas gesagt hatte. Ich hatte gehört, wie sie sich am Samstag im Schlafzimmer gestritten hatten und Vater meinen Namen gebrüllt hatte. Und nun – am Mittwoch – sagte sie mir mit zerknirschter Miene, ich solle es etwas ruhiger angehen lassen, und machte dabei eine beschwichtigende
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