Hinter der Tür
Aufmerksamkeit bedürfe. Er näherte sich ihr, ließ die
Arme um ihr farbverschmiertes Neglige gleiten und lächelte auf sie hinab. »Vergiß das alles«, sagte er. »So etwas ist mir nie in den Sinn gekommen. Gail Gunner- son kann mir nur als Leiche nützen. Wir sind noch immer ein Team, Helena.«
»So hast du mich seit Europa nicht mehr genannt«, sagte Helen schmollend. »Du hast seit damals den Vers nicht mehr aufgesagt.«
»Ist dies das Gesicht, das tausend Schiffe auf den Weg geschickt?« zitierte Vanner, »und das die offenen Türme Iliums in Schutt und Asche legte?« Er ließ das Neglige über ihren gekrümmten Körper hochgleiten und begrub seinen Bart wie einen Spaten in ihrem Hals. »Süße Helena«, murmelte er, »mach mich unsterblich mit einem Kuß.« Sie stöhnte leise, und er trug sie mit schnellen Schritten zum Sofa und legte sie sanft auf die Kissen. Jetzt schienen ihn die grellroten Farbflecken an ihren Armen und auf dem Neglige nicht mehr abzustoßen; die falschen Blutflecken schienen ihn eher anzufeuern, und Helen wurde durch seine Erregung angesteckt.
»Ach, Herr Doktor«, flüsterte sie.
»Nenn mich nicht so«, sagte er. »Du kennst doch meinen Namen.«
»Ach, Piers«, sagte sie.
Eine halbe Stunde später war sie unter der Dusche und hörte ihn ins Badezimmer kommen, hörte, wie er im Toilettenschrank herumkramte. Sie erhob die Stimme über das Rauschen des Wassers und fragte, was er da mache.
»Ich schau nach, ob nichts zurückgeblieben ist«, sagte er. »Sachen, die mir gehören. Rasierkrem und so.«
»Was? Ich verstehe dich nicht.«
»Egal.« Joel Vanner alias Piers Swann setzte seine methodische Suche fort. Er war völlig in Anspruch genommen von seiner Aufgabe, weil er die Gründlichkeit um ihrer selbst willen liebte. Was Sauberkeit und Ordnung anging, war er ein Fanatiker; der Rektor seiner Volksschule in Kent hatte ihm in dieser Richtung ›Zwangsvorstellungen‹ bescheinigt; das förmliche Schreiben an seinen Vater hatte damals einen weiteren Schulwechsel ausgelöst. In der Brusttasche seiner Jacke befand sich ein kleines Notizbuch, das in dünnstes englisches Leder gefaßt war; mit einer ungewöhnlich kleinen und schönen Schrift hatte Vanner hier eine verschlüsselte Liste aller wichtigen Details des Plans erstellt, den er ›Unternehmen Goldene Tür‹ genannt hatte; ein Name, der ihn nur so lange amüsierte, wie er geheim blieb; nicht einmal Helen Malmquist, seine einzige Verbündete und Vertraute, wußte von dieser Bezeichnung. Er hatte den Plan ursprünglich ›Unternehmen Auftauen nennen wollen, da er das Projekt in einer verlassenen Alphütte entworfen hatte, die bis zum Einsetzen der Frühlingswärme von der Zivilisation abgeschnitten gewesen war. In dieser Hütte hatte er die beiden kältesten Wochen seines Lebens zugebracht und wußte noch immer nicht genau, ob sein Vater lebte oder tot war, nachdem die Lawine ihre Bergtour abrupt beendet hatte. Aber vielleicht hatte die Kälte auch ein gutes Werk getan. War es nicht richtig, daß Kälte das Großhirn veränderte, es vielleicht diamanthart schrumpfen ließ und den Geist in die Lage versetzte, kristallklare Gedanken zu fassen und brillante Strategien zu entwerfen? Waren nicht alle großen Impulse in Kunst und Wissenschaft bei niedrigen Temperaturen entstanden? Natürlich hatte Vanner in seiner zweiwöchigen Wintergefangenschaft nicht schon alle Einzelheiten ausgearbeitet. Damals hatte er nicht mit der willigen Unterstützung der verarmten amerikanischen Kunststudentin rechnen können, die er in Zürich kennengelernt hatte. Das Mädchen war sofort bereit, bei seinem Plan zum schnellen Reichwerden mitzuwirken, nachdem sie sich von dem ersten Schock der Erkenntnis erholt hatte, daß Piers lebte und neuerdings einen Bart trug. Damals hatte er noch nicht all die köstlichen Theatertricks ausgearbeitet – das Stroboskoplicht, das im Badezimmer explodierte, das Photo von Gails toter Mutter am Spiegel, die hängende Modepuppe auf dem Boden, das Rumsen, Klappern, Knirschen und Spuken, das nur dadurch ermöglicht wurde, daß sein Vater ihm einen kompletten Satz Schlüssel zum Gunnerson-Haus hinterlassen hatte – das einzige wirkliche Erbstück. Der gefährlichste Augenblick des Unternehmens war gewesen, als er anonym in die Londoner Wohnung an der Fulham Road zurückkehrte und die Gläubiger seines Vaters damit beschäftigt fand, Gilbert Swanns magere Besitztümer zu schätzen. Aber danach war alles glattgegangen, und er
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