Hiobs Brüder
Staubwolke aufgewirbelt wird …«
Norwich, Mai 1147
»Es wäre alles einfacher, wir gingen nach Helmsby und Ihr ließet Euch dort von mir behandeln«, hatte Josua ben Isaac gesagt.
Aber Alan hatte das strikt abgelehnt. »Ich habe geschworen, nicht nach Helmsby zurückzukehren, ehe ich mein Gedächtnis wiedergefunden habe. Falls überhaupt.«
»Also schön. Das macht die Dinge komplizierter, aber es wird schon gehen. Wenn Ihr mir Euer Vertrauen schenkt. Ihr müsst tun, was ich sage, selbst wenn Ihr es nicht versteht. Kurz gesagt: Ihr müsst Euch vorbehaltlos in meine Hände begeben.«
»Das tue ich«, hatte er gelobt, und allmählich fing er an, es zu bereuen.
Meistens war er eingesperrt. Es war ein höchst komfortables Gefängnis in einem lichten, geräumigen Gemach, das für gewöhnlich Josuas Kräutervorräte beherbergte und wo es deswegen wundervoll duftete. Es lag am westlichen Ende des Hauses, hatte eine Verbindungstür zum Behandlungsraum, und eine zweite führte in einen winzigen, von einer Mauer geschützten Garten, wo Josua empfindliche Heilpflanzen aus fernen heißen Ländern züchtete, die keinen Frost vertrugen. Die Sonne war wieder zum Vorschein gekommen, und Josua drängte seinen Patienten, so viel Zeit wie möglich im Freien zu verbringen, was der bereitwillig tat.
Aber das Gefühl von Unfreiheit demütigte ihn und machte ihn rastlos.
»Es ist nicht ideal«, räumte Josua am zweiten Tag ein. »Aber Ihr wisst wohl, dass Ihr Euch das nur selbst zuzuschreiben habt und mir keine andere Wahl lasst.«
»Ja. Und ich kann kaum fassen, welche Mühen Ihr für mich auf Euch nehmt. Ich bin Euch wirklich dankbar, Josua.«
»Gut«, erwiderte der mit einem kleinen Lächeln. »Dann macht Euch diese Dankbarkeit zunutze, um Euch in Euer Schicksal, hier eingesperrt zu sein, zu ergeben. Denn je ausgeglichener Ihr seid, desto größer sind unsere Erfolgsaussichten.«
Alan nickte.
»Es macht Euch nichts aus, viel allein zu sein?«, vergewisserte der Arzt sich besorgt.
»Im Gegenteil.«
»Gut.«
»Und wann fangen wir an?«
»Ich denke, in drei Tagen.«
»In drei Tagen?« Auf Josuas strafenden Blick hin hob Alan begütigend die Hände. »Schon gut. In drei Tagen. Wir machen alles genau so, wie Ihr sagt. Wir reden nicht über Eure Tochter, und damit Ihr sie in Sicherheit wisst, begebe ich mich unbewaffnet in Eure Gefangenschaft. Ich gestatte Euch, alles mit mir anzustellen, was Euch beliebt, ich gelobe, alles zu schlucken, was Ihr mir gebt, jeden Schmerz zu ertragen, den Ihr mir zufügt, und zwar so lange, wie Ihr es für nötig haltet, ohne je Rache an Euch und den Euren zu nehmen. Und ganz gleich, wie die Sache ausgeht, am Ende stifte ich in Norwich ein Hospital zur Behandlung der Geisteskranken unter Eurer Leitung. Habe ich eine Eurer Bedingungen vergessen?«
Josua erfreute sich unverkennbar an Alans Verdruss. »Ich glaube nicht, nein.«
»Ihr habt also nicht zur Bedingung gemacht, dass ich keine Fragen stelle?«
»Ich fürchte, das habe ich vergessen.«
Alan lächelte grimmig. »Warum erst in drei Tagen?«
»Weil ich ein paar Dinge nachlesen muss, damit ich Euch nicht vergifte oder anderweitig umbringe. Und morgen ist Sabbat – da …«
»… tut Ihr gar nichts, ich weiß.«
»Oh doch. Es ist sogar gestattet, die Sabbatruhe zu brechen, um ein Leben zu retten. Aber in der Regel gehen wir in die Synagoge, wir beten, wir besinnen uns auf den Allmächtigen, und wir widmen uns der Familie. Auch Ihr werdet Euch während dieser drei Tage besinnen, und zwar auf Euch selbst. Ihr müsst Euch von allem befreien, was Euer Herz beschwert. Um das zu erreichen, werdet Ihr jeden Tag ein Bad nehmen.«
»Ein Bad ?«
»Ganz recht. Und Ihr werdet eine strikte Diät einhalten, die, so fürchte ich, nur aus Grünzeug und Wasser bestehen wird.«
»Ich merke, Ihr trachtet mir in Wahrheit doch nach dem Leben … Wozu die Diät?«
»Um das Gleichgewicht Eurer Körpersäfte wiederherzustellen.«
»Meiner was?«
»Körpersäfte. Aus ihnen sind wir gemacht, mein ungebildeter junger Freund: Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle.«
»Klingt entzückend …«
»Sind sie im Gleichgewicht, sind wir gesund. Wenn nicht, werden wir krank. Jede Krankheit des Geistes – und dazu zählt Euer Gedächtnisverlust – entsteht durch ein Übermaß an schwarzer Galle. Melancholia nennen wir diese Störung im Gleichgewicht der Körpersäfte. Die schwarze Galle steigt aus der Milz in den Magen auf, und ihre Dämpfe befallen das
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