HISTORICAL BAND 295
und suchte die Umgebung ab. Trotz des Kampflärms vernahm er den Schrei einer Frau, und endlich entdeckte er sie, keine zwanzig Schritt von ihm entfernt. Wieder erwachte die Wut in ihm, doch er bändigte sie und nutzte die Kraft dieser Wut, um zu Elgiva zu gelangen. Sein Schwert fuhr durch die Luft und ließ links und rechts von ihm die Gegner zu Boden sinken, als würde er mit einer Sense eine Schneise in ein Kornfeld mähen.
Erleichtert sah Elgiva ihn näherkommen, doch als er endlich bei ihr war, wich diese Erleichterung blankem Entsetzen. Ein Fremder stand vor ihr. Das war nicht Wulfrum, sondern ein Krieger auf einem Rachefeldzug, ein blutbeschmierter Kämpfer mit einem ebenso blutigen Schwert, dessen Spitze er auf sie richtete. Einen Moment lang stand er reglos da und betrachtete sie mit eisigem Blick. Erst als er ihr in die Augen sah, verwandelte sich das Eis in Feuer. Gebannt schaute sie zu, wie er seine Klinge hob und herabsausen ließ. Mit einem dumpfen Schlag traf der Stahl auf Holz und durchtrennte den Riemen, mit dem man sie an den Baum gefesselt hatte. Elgiva sackte in sich zusammen und nahm kaum noch den kräftigen Arm wahr, der sie auffing, als sie in Ohnmacht sank.
Sie wusste nicht, wie lange sie so dagelegen hatte. Vielleicht waren es nur wenige Augenblicke gewesen, jedoch klang der Kampflärm nun gedämpfter und schien weiter entfernt zu sein. Jemand war bei ihr und hielt sie an sich gedrückt, während er leise ihren Namen sprach.
„Elgiva, meine Liebe. Mein Herzblut. Um Odins willen, sprich zu mir.“
Unsicher schlug sie die Augen auf. Wie hatte er sie gerade genannt?
„Wulfrum?“
„Oh, meine Liebe! Den Göttern sei Dank! Ich dachte, ich hätte dich verloren!“
„Du bist gekommen, um mich zu retten.“ Unwillkürlich brach sie in Tränen aus, schluchzte so heftig, dass ihr Körper regelrecht durchgeschüttelt wurde.
„Ruhig, ganz ruhig. Es ist gut, Elgiva, es ist alles gut.“ Er wiegte sie in seinen Armen, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. Dabei fiel sein Blick auf ihre wunden Handgelenke, und er zischte zornig: „Er hat dich verletzt.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das kommt nur von den Fesseln.“
„Niemand wird dir je wieder wehtun, das schwöre ich dir.“
„Oh, Wulfrum, er hat mir gesagt, du seist tot.“ Wieder musste sie schluchzen. „Er sagte, er wollte mich bei sich behalten … Er wollte mich nach Wessex bringen … Ich dachte, ich sehe dich nie wieder …“
Wulfrum gab ihr einen besänftigenden Kuss auf die Stirn. „Du hast doch nicht geglaubt, ich würde zulassen, dass ein anderer Mann dich mir wegnimmt, oder?“
Während sie wieder von den Tränen überwältigt wurde, konnte Wulfrum nur tatenlos zusehen. Als wäre das noch nicht schlimm genug, kam ihm auf einmal ein furchtbarer Gedanke.
„Elgiva … das Kind. Ist ihm etwas zugestoßen.“
„Nein, ich glaube, es geht ihm gut.“
Erleichtert atmete er auf. Was hätte er an diesem Tag nicht alles verlieren können! In diesem Augenblick begriff er, dass Liebe stärker war als Hass. Liebe machte einen Mann verwundbar, aber sie verlieh ihm auch neue Kraft. Sie gab seinem Leben einen Sinn und ein Ziel. Aylwin war heute gestorben, doch verloren hatte er seinen Kampf schon viel früher. Sein Ärger verflog, denn er wusste, der Angelsachse hatte nur das getan, was man von jedem Mann erwarten konnte: Er hatte für sein Land und sein Volk gekämpft – und um die Frau, die er liebte. Dass diese Liebe nicht erwidert wurde, musste für ihn ein schwerer Schlag gewesen sein, aber zumindest hatte er diese Niederlage zum Schluss noch eingeräumt. Auch das erforderte eine gewisse Tapferkeit. Wulfrum sah seine Frau liebevoll an.
„Du hast mir so sehr gefehlt.“
Mit Tränen in den Augen sah sie ihn an. „Kannst du mir jemals verzeihen, dass ich …“
Er legte einen Finger auf ihre Lippen. „Es gibt nichts, was ich verzeihen müsste. Die Schuld liegt bei mir, weil ich zugelassen habe, dass die Eifersucht mich blendet.“
„Du hattest allen Grund, wütend auf mich zu sein, aber ich wollte dich nie hintergehen. Das schwöre ich.“
„Das weiß ich doch. Und ich weiß auch, dass es ohne dich für mich keine Zukunft geben könnte. Du bist mein Leben, Elgiva. Mein Leben und meine Liebe.“
Dann drückte er sie fest an sich in einer Umarmung, die keiner weiteren Worte bedurfte.
EPILOG
Im Frühling des Jahres 868 n. Chr.
Wulfrum stand am Fenster und betrachtete die Landschaft, die in das erste graue
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