HISTORICAL BAND 295
erkennen zu lassen, wie sehr seine Nähe sie irritierte, drehte sie sich weg. Bevor sie jedoch ausweichen konnte, hatte er ihr bereits einen Arm um die Taille gelegt, um sie zurückzuhalten. Sie merkte, wie er das Gesicht an ihrem Hals barg, und spürte seine warmen Lippen auf ihrer Haut. Ihr Blut geriet in Wallung, ihr Verstand sträubte sich. Dann zog er sie ohne Vorwarnung nach hinten, bis sie in seiner Armbeuge lag.
Wulfrum hatte sie nur flüchtig küssen wollen, doch als seine Lippen ihre berührten, wurde er von den intensiven Düften ihrer Kleidung und ihrer Haut wie berauscht. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, geriet der Kuss leidenschaftlicher, und Elgivas Widerstand stachelte ihn nur noch mehr an. Erst als er sich von ihr löste und sie ansah, gelang es ihm, sich wieder in den Griff zu bekommen.
„War das eine weitere Machtdemonstration?“, fragte sie spöttisch.
„Du weißt, dass es das nicht war.“
Die Antwort kam leise über seine Lippen, und sie war die Wahrheit. Hätte er seine Macht über sie demonstrieren wollen, wäre es nicht bei diesem Kuss geblieben. Dann hätte er das Begonnene unweigerlich zu Ende geführt. Er musterte sie aufmerksam.
„Gegen wen kämpfst du an, Elgiva? Gegen mich oder gegen dich selbst?“
„Ihr schmeichelt Euch.“
„Meinst du wirklich?“
Ihre Wangen glühten, sie fühlte sich in zunehmendem Maß erniedrigt. Zum ersten Mal blieb sie ihm eine Antwort schuldig. Wulfrum reagierte darauf mit einem empörenden Lächeln, das ihr Unbehagen noch weiter steigerte.
„Meinst du wirklich?“, wiederholte er.
Obwohl er sie nur locker umfasste, konnte sie durch den Stoff ihres Kleids hindurch seine Hände so deutlich spüren, als lägen sie auf ihrer nackten Haut.
„Glaubt, was Ihr wollt“, antwortete sie schließlich.
„Dann glaube ich, dass du mich ebenso sehr begehrst, wie ich dich begehre.“
„Ihr irrt Euch.“
„Sollen wir es darauf ankommen lassen?“
„Nein.“
„Hast du Angst, ich könnte recht haben?“
„Ich habe keine Angst. Und jetzt lasst mich los.“
Zu ihrer Überraschung und Erleichterung ließ er sie los. In seinem Gesicht spiegelten sich Belustigung und Enttäuschung, aber auch noch etwas anderes, etwas Düsteres, das sie nicht richtig deuten konnte.
„Na gut, Elgiva, ich werde dich gehen lassen, jedenfalls für den Augenblick.“
Als er einen Schritt zurücktrat, atmete sie befreit auf.
„Bis später, Elgiva.“
Dann verließ er den Raum, und sie war wieder allein. Es dauerte eine Weile, ehe sie sich wieder so weit beruhigt hatte, dass sie ihre Arbeit fortsetzen konnte.
Osgifu und Eisenfaust kehrten erst spät am Nachmittag zurück. Elgiva stand bereits am Fenster ihres Gemachs und hielt nach den beiden Ausschau. Als sie sie endlich erblickte, lief sie gleich in den Großen Saal, um sich anzuhören, was Osgifu zu berichten hatte. Als sie im Saal eintraf, stockte sie kurz, da Wulfrum bereits dort auf sie wartete. Nach der vorangegangenen Begegnung mit ihm hatte sie sich schon gefragt, wie sie ihm wieder unter die Augen treten sollte. Doch er drehte sich nur um und nickte ihr kurz zu. Dann wandte er sich an Eisenfaust.
„Wie sieht es aus, Olaf?“
„Nicht gut. Wir haben den ersten Todesfall zu beklagen: ein sechsjähriges Kind. Noch mehr werden sterben, wenn wir die Ursache nicht herausfinden.“
Elgiva hörte mit wachsender Sorge zu. Osgifus Miene war so betrübt, wie sie selbst sich fühlte. Bei jeder Seuche schwebten die Ältesten und die Jüngsten stets als Erste in Lebensgefahr. Sie musste an Ulric und Pybba denken und fühlte sich gleich noch hilfloser und ohnmächtiger.
„Es muss einen Zusammenhang geben“, sagte sie. „Wir übersehen irgendetwas.“
Als die anderen sich zu ihr umdrehten, errötete sie, da ihr gar nicht bewusst gewesen war, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte. Unwillkürlich rechnete sie damit, von Wulfrum für die Unterbrechung zurechtgewiesen zu werden, doch er sagte nichts, sondern sah sie nur forschend an.
„Osgifu hat vorgeschlagen, dass wir Latrinen ausheben“, sprach Olaf weiter. „Ich glaube, das ist eine gute Idee. Im Dorf stinkt es bestialisch.“
Wulfrum nickte. „Ich werde Ido damit beauftragen, sich gleich morgen früh mit einer Gruppe Arbeiter daran zu machen. Dieser Erkrankung muss Einhalt geboten werden.“
Da Elgiva damit gerechnet hatte, dass Osgifus Vorschlag sofort abgelehnt würde, konnte sie ihr Erstaunen und ihre Freude darüber nicht verbergen, dass
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