HISTORICAL BAND 295
Wulfrum aufgebracht wissen. „Unsere Wachen stehen so eng, dass es selbst einer Maus nicht gelingen sollte, mit einem Stück Käse unbemerkt zu entkommen.“
„Vielleicht müssen sie gar nichts überwinden“, warf Eisenfaust ein.
„Du meinst, jemand auf Ravenswood hilft ihnen?“
„Es wäre zumindest möglich.“
„Das stimmt. Schließlich ist es mehr als seltsam, dass die Diebe jedes Mal ganz genau wissen, wann und wo sie zuschlagen müssen, um nicht erwischt zu werden.“ Wulfrum setzte eine undurchdringliche Miene auf. „Wenn das wahr ist und der Verräter in unseren eigenen Reihen sitzt, werden wir ihn bald ausfindig machen. Und dann wird er seine Tat noch bitter bereuen.“
Diese Worte beunruhigten Elgiva sehr. Im Geiste ging sie die Namen aller Leute durch, die sie hier kannte. Niemandem davon traute sie einen solchen Akt zu. Und doch musste sie sich auch eingestehen, dass viele ihrer Landsleute die neuen Herren nur erduldeten, weil es nicht anders ging. Immerhin hatte ja auch jemand Aylwin zur Flucht verholfen. Würde derjenige sich mit den Aufständischen verbünden, um einen Schlag gegen die Dänen zu führen? Darauf wusste sie keine Antwort. Das Waldgebiet bot zahlreiche Verstecke, die man nur finden konnte, wenn man von ihrer Existenz wusste. Manche Höhlen waren so groß, dass viele Leute darin Unterschlupf finden konnten. Aber das waren natürlich alles nur Vermutungen, einen Beweis hatte sie nicht.
Unterdessen wurde der Sommer mit jedem Tag heißer und schwüler, und jegliche körperliche Anstrengung war einfach nur lästig. Elgiva sehnte sich nach einem kühlen Bad im Teich, aber sie würde sich nicht über Wulfrums Anweisung hinwegsetzen, sich von den Wäldern fernzuhalten. Die drückende Luft kündete von einem heraufziehenden Unwetter, doch etwas Regen würde gewiss guttun, da eine bleierne Hitze herrschte. Seufzend legte sie das Nähzeug zur Seite und stand von ihrem Hocker auf, da sie es nicht länger in dem geschlossenen Raum aushielt. Ihr Kopf schmerzte, und die Kleidung klebte auf ihrer schweißnassen Haut. Sie wandte sich in Richtung Obstgarten, in der Hoffnung, dass es dort im Schatten ein wenig kühler war. Tatsächlich war es unter den Bäumen erträglich, und sie ließ sich dankbar ins Gras sinken. An den Ästen reifte viel Obst heran, was für den Herbst eine reiche Ernte versprach. Bald würde das Getreide geerntet werden, dann wären die Speicher und Lager wieder gut gefüllt. Lange würde es nicht mehr dauern, dann verloren die Blätter ihre kraftvolle grüne Farbe. Das Jahr schritt voran, und alles Leben folgte ihm. Wer hätte im letzten Winter vorhersehen können, welches Schicksal sie im Frühling ereilen sollte? Schon jetzt kam es ihr vor, als gehöre das letzte Jahr zu einem anderen Leben.
Beim Spätmahl saß Elgiva da und beobachtete, wie Wulfrum sich mit seinen Männern unterhielt und mit ihnen lachte. Er wirkte gelassen, saß zurückgelehnt in seinem Armstuhl und spielte mit dem Trinkhorn. Von Zeit zu Zeit schaute er zu ihr und lächelte sie an, wobei ihr Herz jedes Mal einen Satz machte. Sie wusste, wenn sie sich später in ihr Gemach zurückzogen, würde er sie lieben, und sie würde sich ihm wie immer hingeben. Du wirst zu mir kommen. Das hatte er vor langer Zeit zu ihr gesagt. War es die Erfahrung mit anderen Frauen gewesen, die ihn so selbstbewusst hatte reden lassen? Vor ihr musste es andere gegeben haben, denn sein Geschick als Liebhaber konnte er sich nur durch Übung angeeignet haben. Wer waren diese Frauen gewesen? Hatte er eine von ihnen geliebt? Gab es eine, die ihm noch etwas bedeutete? Er sprach nie über sie, aber hieß das, dass er sie vergessen hatte? Elgiva verdrängte diese Gedanken, wütend auf sich selbst, weil sie sie überhaupt erst zugelassen hatte. Was kümmerte sie seine Vergangenheit? Sie war jetzt seine Ehefrau, nur das zählte. Und jede Nacht, wenn sie sein Bett teilte, erfuhr sie aufs Neue, was es hieß, seine Frau zu sein.
An diesem Abend zog sich Elgiva früher als sonst zurück und begab sich lange vor Wulfrum in das gemeinsame Gemach. Sie zog sich bis auf das dünne Unterkleid aus und stellte sich ans Fenster, um etwas Abkühlung zu bekommen. Eine leichte Brise hatte eingesetzt, und im Westen türmten sich die Wolken auf, Vorboten eines gewaltigen Unwetters. Entfernte Blitze kündigten dessen Ankunft an. Elgiva lehnte sich gegen den Fensterrahmen und sah zu, wie das Unwetter näherkam. Der Wind spielte mit ihren Haaren und
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