HISTORICAL EXCLUSIV Band 17
einzige Möglichkeit, überlegte sie, während sie das Haar zu einem Knoten band und mit Nadeln so stramm befestigte, dass es ihr wehtat. Im Spiegel sah sie müde und blass aus, die Augen waren nach einer schlaflosen Nacht gerötet. Ihre Nerven waren angespannt, und ihre Hände zitterten, als sie die halshohe Bluse schloss und die schlichte silberne Brosche, die ihrer Mutter gehört hatte, vorn auf dem Stehkragen befestigte.
Sie fühlte sich, als würde sie sich für ihre Hinrichtung kleiden. Von dem anderen Ende der Straße war eine Glocke zu hören. Ihr hässlicher Klang zerriss die Stille des Morgens. Er schockte Sarah. Der Moment war gekommen …
Aufgeregt nahm sie das ledergebundene Gesangsbuch und den grauen Wollschal, den sie sonntags trug, wenn es dafür nicht zu kalt war. Sie zog ihn fest um ihre Schultern. An einem Tag wie diesem brauchte sie die Wärme, die wenigstens er spendete.
An der Tür blickte sie sich in dem kleinen, schäbigen Schulraum um. Liebevoll ruhte ihr Blick auf den abgenutzten Schulbänken, den Schiefertafeln, der Tafel mit den Rechentürmen für den Unterricht am Montag.
Das war ihre kleine Welt. Bis zu diesem Moment hatte Sarah gar nicht gewusst, wie sehr sie an ihr hing.
Die Glocke bimmelte eifrig. Der messingscharfe Klang war überall im Ort zu hören, um die Gläubigen zusammenzurufen und die Drückeberger zu stören, wie zum Beispiel die Mädchen aus Smittys Saloon, die sich garantiert gerade ihren wohlverdienten Schlaf nach einer anstrengenden Nacht gönnten. Als Sarah den Schlüssel vom Haken nahm, dachte sie an die sterbenskranke Marie. Sie sollte ihr wieder einen Besuch abstatten, vielleicht heute Nacht, wenn sie dann dazu noch in der Lage war.
Ob ihre Welt dann noch so war wie vorher? Die Morgenluft schlug ihr ins Gesicht, als sie die Tür öffnete. In der Kälte musste sie an Donovans Kuss denken und daran, wie sie in seinen Armen schwach geworden war, während ihnen der kalte Frühlingswind um die Ohren pfiff. Wenn sie nur an seine wilde, raue Zärtlichkeit dachte, wurde sie schon rot.
Die ganze Nacht hatte sie damit zugebracht, die Erinnerung an ihn zu verdrängen. Aber all die Anstrengung war vergeblich gewesen. Sein Gesicht mit dem unrasierten Kinn, sein harter Blick, seine bronzefarbene, kühle Haut unter ihren Händen – all das lebte in ihrer Erinnerung.
Sarah kannte genug Männer, sie war nicht dumm. Donovans Leidenschaft war geweckt, sonst nichts. Sogar der Kuss war nur Ausdruck von Zorn gewesen, eine Maßnahme, um sie zu beherrschen und zu bestrafen. Nie würde er erfahren, dass sie kurz davor gewesen war, alles fahren zu lassen, was sie sich so mühsam erarbeitet hatte.
Ob auch Donovan in die Kirche kam? Bestimmt nicht, versicherte sie sich, während sie die Tür hinter sich schloss und die Stufen hinunterschritt. Varina war noch bettlägerig und würde seine Hilfe in der Hütte benötigen. Sie kannte Donovan jedenfalls bisher nicht als Kirchgänger. Nur gut so. Was sie vorhatte, war auch ohne ihn schwierig genug. Falls er da sein, sie dabei ansehen würde … über diese Möglichkeit mochte Sarah nicht einmal nachdenken.
Durch den Sturm vom Vortag waren die Wege erst noch mehr aufgeweicht, dann über Nacht übergefroren, wodurch ein Sumpf an eisigem Schlamm entstanden war. Um ihre frisch polierten Stiefel nicht zu verschmutzen, stieg Sarah vorsichtig über den Matsch aus Pfützen und Wagenspuren. Aus dem Augenwinkel entdeckte sie Mrs. Eudora Cahill, die am Arm ihres Mannes Sam geschäftig die Treppenstufen zur Kirche hinaufeilte, im Schlepptau ihre beiden Töchter im Teenageralter. Als die Goldquellen versiegten, hatte Sam als der einzige Banker genug Geld verdient gehabt, um sich zur Ruhe zu setzen, aber nicht genug, um den Goldgräberort Richtung Denver oder Central City verlassen zu können. Trotzdem, den Cahills gehörte das imposanteste Haus von Miner’s Gulch. Eudora hielt sich deshalb für eine ungekrönte Königin und Schiedsrichterin in Geschmacksfragen. Was sie für richtig befand, akzeptierten die anderen Frauen. Das wird für mich heute Morgen lebenswichtig sein, dachte Sarah. Bisher war sie von Eudora mit Wohlwollen betrachtet worden. Aber Eudora war wie die meisten Einwohner von Miner’s Gulch eine Südstaatlerin. Ich kann mich auf ihre Unterstützung genauso wenig verlassen wie auf die von irgendjemand anders. Ich bin ganz allein auf mich gestellt. Zu dem Resultat kam sie.
Als sie die Straße fast überquert hatte, mit hochgehobenem
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