Historical Weihnachtsband 1991
kleine Rosinenkuchen ein. Unfern davon schrie sich ein Pastetenverkäufer heiser, hielt ein Mann auf einem Piedestal heißen Holundersaft feil.
Matthew blieb bei dem Händler stehen, der Kastanien auf einem großen Metallgitter röstete, und kaufte eine Tüte voll, aus der sie alle auf der Straße verspeisten.
„Schau doch diesen hübschen Hut", rief Phoebe entzückt und blieb vor einem Putzmacherinnenladen stehen.
Angelica lächelte. „Da solltest du einmal die Kunstwerke sehen, die im Geschäft ausgestellt sind, in dem die Schwestern Neville arbeiten."
„Die Schwestern Neville?" fragte Matthew.
„Sie gehören zu meinen Pensionsgästen", erklärte Angelica. „Sie sind überaus reizende und liebenswürdige Mädchen, und doch kümmern sich die Eltern überhaupt nicht um sie. Ich muß ihnen wirklich ein paar gute Ehemänner finden. Die Eltern tun es nicht, und die Mädchen selbst sind viel zu müde, wenn sie abends von der Arbeit kommen. Dann nehmen sie noch Zusätzliches mit nach Hause, um etwas mehr zu verdienen, und kommen dadurch gar nicht unter Menschen."
„Und da, meinen Sie, würden Ehemänner alles besser machen?" scherzte Matthew.
„Sie gäben den Mädchen doch wenigstens Sicherheit. Die beiden machen sich natürlich Sorgen um ihre Zukunft. Man hat sie nicht zu einem Beruf erzogen, und es fällt ihnen schwer genug, so viele Stunden zu arbeiten. Wenn sie verheiratet wären, könnten sie vielleicht ein eigenes Geschäft eröffnen und brauchten sich nicht halb zu Tode zu sticken oder zu nähen."
„Du kümmerst dich wirklich um alle deine Mitbewohner, als ob sie deine Kinder wären", bemerkte Geoffrey.
„Natürlich, wir sind wie eine große Familie. Sie haben alle keine Freunde oder keinen Kontakt zu ihren Verwandten und brauchen Unterstützung und Wärme."
„Wenn es Ihnen nun eines Tages in den Sinn käme, die Lady Slipper Lane zu verlassen", fragte Matthew, „was dann?"
Angelica lachte. „Ich werde mein Haus nie verlassen. Wohin sollte ich auch wohl gehen? Und diese Menschen brauchen mich. Für die Schwestern bin ich fast eine Art Ersatzmutter, obwohl ich kaum älter bin als sie."
Matthew antwortete nicht, sondern schaute Angelica nur sehr nachdenklich an.
Nachdem sich die Menge endlich verlaufen hatte, stiegen sie in die Kutsche und fuhren durch die Straßen, die von Schneematsch bedeckt waren, nach Hause. An der Ecke zur Lady Slipper Lane ließ Geoffrey den Kutscher anhalten. Einige Männer, Frauen und Kinder standen da und sangen alte Weihnachtslieder.
Selbst Angelica summte eine der wohlbekannten Melodien mit. Als die Sänger zu Ende gekommen waren, erklärte sie etwas verlegen: „Ich liebe Weihnachten mehr als all die anderen Feste des Jahres." Dabei fiel ihr ein, daß es eigentlich auch der Termin ihrer Hochzeit mit Matthew gewesen wäre, und rasch fügte sie hinzu: „Ich werde gleich hineingehen. Ihr müßt mich nicht weiter begleiten. Dort unten ist mein Haus, und in der engen Gasse kann man den Wagen so schlecht wenden."
„Ich bringe Sie bis zur Haustür", sagte Matthew ruhig.
„Das ist wirklich nicht nötig, ich . . ."
Er hatte bereits die Hand unter ihren Ellbogen gelegt und ließ ihr keine andere Wahl, als sich seinem Schritt anzupassen. Das Ehepaar Addams kehrte zur Kutsche zurück.
„Weihnachten ist auch meine liebste Zeit im Jahr", bemerkte er. Unter ihren Schritten knirschte der Schnee, der hier nicht von Gefährten zu Matsch zerdrückt war. „Dieses Fest kann ebenso traurig wie glücklich machen."
„Ich weiß, ich weiß es nur allzugut." Angelica war gefühlsmäßig viel zu verwirrt, um eine ausweichende Antwort zu geben.
„Haben Sie jemals daran gedacht, wie es hätte kommen können?"
Sie schwieg einen Augenblick. „Jede Frau hätte das getan. Natürlich."
„Auch ein Mann kann es."
„Wir wollen besser nicht an traurige Zeiten zurückdenken. Die können wir nicht mehr ändern, und die Erinnerung daran macht auch manche Freude bittersüß."
„Geoffrey hat mir neulich etwas sehr Wahres gesagt. Manchmal wird uns, selten genug, im Leben eine zweite Chance gegeben. Dann können wir alles ändern und die Dinge auf unsere eigentliche Bestimmung zurückführen."
Atemlos fragte Angelica: „Und wie hat Geoffrey das wohl gemeint?"
„Er sprach von uns beiden."
Sie betrachtete die Fassade des Hauses, in dem sie mit Philip Hamilton gelebt hatte, und wurde traurig. „Dann hat er sich geirrt. Kein Mensch kann das Rad der Zeit zurückdrehen und wieder von
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