Historical Weihnachtsband 1992
das Personal angeht." Lord Lindsay stand auf und rückte vor dem Spiegel neben der Tür das Krawattentuch zurecht. „Ich werde in Duncan House zu Abend essen. Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen."
Diesen guten Rat hätte eher Blair Duncan nötig gehabt, als sie sich abends völlig unvermutet dem Earl of Lindsay gegenübersah.
„Du? Ich habe dich doch nicht. . ." Sie biß sich auf die Lippe, um nicht gegen das traditionelle Gebot der Gastfreundschaft zu verstoßen, das jedem Schotten heilig war. „Komm herein. Ich habe zwar nur mit Pater MacKenzie gerechnet, aber du bleibst doch zum Essen?"
„Liebste Blair, hast du heute morgen in der Kirche nicht bemerkt, wie die Leute gelächelt und sich zugenickt haben? Es kann nicht deine Absicht sein, deinen Zukünftigen an einem Tag wie diesem aus dem Haus zu weisen. Außerdem habe ich den zu der gefüllten Gans passenden Wein mitgebracht."
Ein Klopfen an der Tür bewahrte Blair vor einer Antwort. Was hätte sie auch sagen sollen? Cameron wußte, was es zum Dinner geben sollte. War das seine Art, ihr durch die Blume verständlich zu machen, ihre Vermutung hinsichtlich des Diebes sei nicht so ganz abwegig gewesen?
„Treten Sie ein, Pater MacKenzie", sagte Blair und lächelte. „Fröhliche Weihnachten!
Lord Lindsay ist heute unser Gast."
„Ja, Pater, ich habe Miss Duncan soeben erzählt, wie sehr Ihre Predigt beim Frühgottesdienst mir Eindruck gemacht hat. Sie haben ja so recht! Wir sollen die Liebe unserer Herzen ebenso teilen wie die Speisen auf dem Tisch und die Vorräte im Schrank. Das nenne ich den wahren Sinn der Weihnacht!"
9. KAPITEL
Auf dem Heimritt durch die frostig kalte Luft nach der letzten verstohlenen Geschenkrunde überlegte Cameron, ob er noch einmal bei Blair haltmachen solle.
Nach der Entdeckung des Schlupfwinkels hatte er diesmal aus seinen Beständen geholt, was noch zu verteilen war. Bei der Größe und den Vorräten von Lindsay Hall würde kein Mensch den Verlust bemerken. Jetzt freilich beschäftigten Cameron ganz andere Gedanken als tätige Nächstenliebe. Blair war eine wirklich bezaubernde Gastgeberin gewesen, obwohl er sich selbst eingeladen hatte. Trotzdem hieße es wahrscheinlich den Bogen überspannen, wenn er sie zu dieser späten Stunde zum zweiten Male aufsuchte. Er war nur ungern aufgebrochen, doch er hatte noch etliches Wichtige zu erledigen gehabt. Grollend erinnerte er sich, daß Pater MacKenzie geblieben war, und tröstete sich dann ein wenig mit der Freude, die er in dieser Nacht armen Menschen mit den prallen Säcken bereitet hatte.
Charlie Fergusons Familie konnte die Kohlen gut brauchen, um so mehr, als die alte Mutter des Bauern noch bei ihm lebte. Und was die MacNabs anging, so verdienten sie die Zuwendungen von Mal zu Mal mehr. Cameron stellte sich vor, wie aufgeregt Mrs. MacNab die Ballen Stoff und Säcke mit Strickwolle öffnen würde, die er ihr vor die Tür gelegt hatte. Allein deshalb bereute er nicht, daß er diese Zeit nicht mit Blair verbracht hatte. Die gute Mrs. MacNab mit ihrer großen Familie hatte immer wieder ein Enkelchen, ein Nichte oder einen Neffen, die Kinderkleider oder eine Aussteuer brauchten. Da war es nur recht und billig, daß jemand helfend eingriff. Es war schon sonderbar, wie Cameron die Leute von Glenmuir in diesem Jahr ans Herz gewachsen waren. Bei den vergangenen Weihnachtsfesten hatte er zwar seine guten Taten ebenso sorgfältig und großzügig geplant, ohne aber persönlich Anteil zu nehmen.
Freilich, damals wie heute hatte seine Liebe vor allem Blair gehört.
Natürlich war es sehr ärgerlich, die ganze Zeit neben ihr zu sitzen, ohne mit den Fingern durch das hcrrliche Haar streichen oder kleine, erregende Küsse auf den schlanken Hals hauchen zu können. Der Priester war keinen Augenblick aus ihrer Nähe gewichen, und auch die Haushälterin war dauernd um sie. Vermutlich hatte er es überhaupt der Anwesenheit der beiden zu danken, daß er so bereitwillig aufgenommen worden war. Er argwöhnte, daß Blair immer noch nicht wußte, wie aufrichtig seine Gefühle für sie waren und daß er sein Leben mit ihr teilen wollte.
Immerhin hatte er ihr zur Rechten bei Tisch gesessen, und beim Weiterreichen einer Schüssel hatte sie sogar seine Hand berührt. Und als Pater MacKenzie einen Trinkspruch auf das verlobte Paar ausbrachte, setzte sie sich nicht zur Wehr, sondern bemerkte nur, daß sie und Lord Lindsay noch nicht alle Fragen besprochen hätten. Aber die Angelegenheit entwickelte
Weitere Kostenlose Bücher