Hitzetod
fühlte sie sich elender als Sisyphus mit seinem Stein. Mindestens eine von drei Frauen war geschlagen, zum Geschlechtsverkehr gezwungen oder anderweitig misshandelt worden. Eine von vieren wurde im Laufe ihres Lebens Opfer häuslicher Gewalt. Pro Woche wurden durchschnittlich zwei Frauen von ihrem aktuellen oder früheren Partner getötet. Einhundertsiebenundsechzig wurden jeden Tag vergewaltigt, und wenn’s hochkam, wurde einer von fünf Übergriffen der Polizei gemeldet.
Kate packte ihre Papiere zusammen. Die Leute wollten oft wissen, warum sie diesen Job machte, und das war die Antwort. Sie fragte sich, wie viele ihrer Zuhörerinnen das verstehen würden. Sie lebten nicht in ihrer Welt, und wenn sie Glück hatten, würde keine von ihnen es je tun. Doch gegen die Statistik kam man nicht an, und sie wusste, dass viele der jungen Frauen, die sich ihren Vortrag anhören würden, irgendwann in der Zukunft, falls es nicht schon geschehen war, geschlagen, misshandelt, in Schrecken versetzt, verletzt, vergewaltigt oder ermordet werden würden und dass es nichts gab, was sie dagegen tun konnte. Nichts, was sie je dagegen würde tun können. Denn wenn Kate zu Hilfe gerufen wurde, war es bereits viel, viel zu spät dafür.
Kate legte die Papiere beiseite und rieb sich mit einer Hand über die Stirn. Als sie die Hand betrachtete, war sie feucht. Kate entfernte eine winzige Faser, die an der Spitze eines Daumens klebte, die Art von Faser, über deren Entdeckung auf einer Leiche ein Gerichtsmediziner hocherfreut wäre. Sie wischte sie weg und rieb noch fester mit der Hand, so, dass ihre Nägel fast die Haut zerkratzten.
Sie nahm eine Reisetasche, die sie in ihrem Büro aufbewahrte, verließ den Raum und ging hinunter zu einer Dusche, die ausschließlich ihr zur Verfügung stand.
Sie duschte immer zwischen den Autopsien. Eine Gewohnheit, die sie sich vor ihrer Facharztausbildung in der Zeit als Polizeiärztin zugelegt hatte. Oft nahm sie eine körperliche Untersuchung an einem Vergewaltigungsopfer vor und tat dasselbe dann mit dem unter Anklage stehenden Vergewaltiger. Eine Dusche zwischen Untersuchungen war vorgeschrieben, um eine Kreuzkontamination von Beweismaterial zu vermeiden, aber Kate war froh über diesen Vorwand.
Sie stand in der kleinen Kabine und zog den Duschvorhang zu. Dann drehte sie am Wasserhahn, bis die Temperatur kaum noch zu ertragen war, und stellte sich unter den fast kochend heißen Wasserstrahl.
13
Superintendent Charles Walker strich sich mit einer manikürten Hand die Haare glatt nach hinten und bedachte Melanie Jones, die hübsche junge Reporterin von Sky Television News, mit einem Lächeln. Es hatten sich noch andere Presseleute um ihn versammelt, doch er konzentrierte sich hauptsächlich auf sie, während er eine vorbereitete Stellungnahme verlas.
»Die Suche nach Jenny Morgan geht rund um die Uhr weiter. Gegenwärtig verfolgen wir mehrere Spuren, bitten aber jeden, der einen Hinweis hat, sich zu melden.«
Diane Campbell schaute von ihrem Fenster aus hinunter auf die Journalisten, die sich um den Eingang des Gebäudes scharten wie ein Rudel Wölfe um ihre Beute. Und im Epizentrum des Ganzen Superintendent Charles Walker, dessen Miene nach wie vor ruhige Autorität, Anteilnahme und Beschwichtigung vermittelte.
»Scheißkerl«, murmelte sie leise und steckte sich eine Zigarette an. Von Delaney, der neben ihr stand und sich ebenfalls den Zirkus da unten ansah, kam kein Widerspruch. Stündliche Nachrichtensendungen bedeuteten, dass die private Tragödie irgendeines Menschen zur Unterhaltung von Millionen rund um die Uhr ausgestrahlt werden konnte. Er wusste, dass die Berichterstattung die Chance erhöhte, Hinweise aus der Bevölkerung zu erhalten und Jenny zu finden, bevor es zu spät war, aber das Aalglatte, Showbusinesshafte daran widerte ihn an.
Chief Inspector Campbell betrachtete das Foto, das Delaney ihr gerade gegeben hatte, das Foto, das er aus dem Material der Überwachungskamera an der U-Bahn-Station Baker Street herausvergrößert hatte; dabei nahm sie einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und blies einen langen, gewundenen Rauchfaden aus, der von der leichten Brise davongeweht wurde.
»Bonner sagt mir, diese Dinger könnten einen umbringen, Diane.«
Mit einem trägen Lächeln erwiderte sie Delaneys Blick. »Wir müssen alle sterben, Jack.«
»Wann?« Er nahm eine Zigarette aus seinem eigenen Päckchen und steckte sie sich in den Mund. »Rauchen in einem öffentlichen
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