Hitzetod
will er auch nur noch eine rauchen, bevor seine U-Bahn geht.«
Delaney ließ das Band vorspulen, bis der Mann seine fertig gerauchte Zigarette wegwarf, sich umdrehte und in der U-Bahn-Station verschwand.
»Falscher Alarm.«
»Sieht ganz so aus.«
Es gab ein paar Dinge, die noch langweiliger waren als Überwachungsaufnahmen anzuschauen, doch auf Anhieb fiel Delaney keins davon ein. Um fünfzehn Uhr dreiundvierzig kam jedoch ein kleines Mädchen ins Bild, und Delaney spürte, wie das Adrenalin in seine gelbsüchtigen Adern schoss. Es war Jenny Morgan, und sie schaute sich um, als wartete sie auf jemanden.
Sally hielt die Luft an. »Sieht aus, als wäre Collier ein Glücksgriff gewesen.«
Den Blick auf den Bildschirm gerichtet, beugte Delaney sich vor. »Möglich.«
Jenny verschwand im U-Bahn-Gebäude, und Delaney zeigte auf den Monitor. »Wechseln Sie zu den Innenaufnahmen«, sagte er, doch als Sally sich anschickte, sie zu suchen, hob Delaney die Hand. »Nicht nötig, da ist sie wieder.«
Jenny kam aus der U-Bahn-Station und stellte sich dorthin, wo der Raucher vorher gestanden hatte, sah auf die Uhr und blickte die Straße hinauf und hinunter.
»Sie wartet eindeutig auf jemanden, Chef.«
Plötzlich lächelte Jenny und winkte, als jemand in langem Mantel und Hut auf sie zukam. Ihr Gesicht erhellte sich zu einem breiten Lächeln, als die Gestalt sie mit dem Rücken zur Kamera rasch umarmte.
Ein paar Augenblicke lang standen sie reglos da. Sally trommelte ungeduldig mit dem Finger auf die Tischplatte.
»Dreh dich um. Komm schon, du Mistkerl, zeig uns dein Gesicht.«
Wie auf Kommando drehte die Person sich um, sodass die Kamera sie beide perfekt einfing. Überrascht zog Delaney eine Augenbraue hoch.
Sally blinzelte. »Das habe ich nicht erwartet.«
»Nein.«
Delaney beugte sich vor und hielt die Videoaufnahme an.
»Gehen wir zur U-Bahn-Station zurück. Wir lassen uns das Bild vergrößern, drucken Flugblätter damit und bringen es ins Fernsehen.«
»Das verändert alles, stimmt’s?«
Delaney blickte sie einen Moment lang an. »Ja, das tut es.«
12
Kate Walker saß an ihrem Schreibtisch und tippte die Aufzeichnungen über Jackie Malones Autopsie ab. Ihre zarten Finger sausten präzise und in professionellem Stakkato über die Tastatur. Sie beendete den letzten Abschnitt mit der Zusammenfassung und speicherte das Dokument. Ihre Hauptschlussfolgerung lautete, dass die Welt ein kranker und gefährlicher Ort war und dass Jackie Malone wenig getan hatte, um sich davor in Sicherheit zu bringen. Andererseits hatten Frauen manchmal gar keine Wahl. Etwas, was sie selbst nur allzu gut wusste.
Nachdem sie aus einem Glas einen großen Schluck kaltes Wasser getrunken hatte, zog sie ein paar Papiere, die sie zuvor aus dem Internet ausgedruckt hatte, zu sich her. Sie sollte demnächst einen Vortrag vor einer Gruppe von Studierenden an ihrer alten Universität mit angeschlossenem Lehrkrankenhaus halten. Jane Harrington, eine Dozentin aus ihrer Zeit als Medizinstudentin, mit der sie sich angefreundet hatte, war inzwischen Leiterin ihrer Fakultät und versuchte ständig, Kate dazu zu überreden, bei ihr einzusteigen, als Lehrende wie auch als praktizierende Ärztin im Gesundheitszentrum der Universität. Kate hatte die Angebote immer abgelehnt, sich jedoch hin und wieder beschwatzen lassen, einen Vortrag oder ein Seminar zu halten, eine von vielen Ehemaligen, die dazu gedrängt wurden, vor den Studierenden über die reale Welt jenseits der metaphorischen Klostermauern der Hochschule zu sprechen. Hauptsächlich die reale Arbeitswelt und in Kates Fall die reale Welt der Gefahr für Frauen. Sie wollte ihre Arbeit in einen Kontext stellen. Sie befasste sich mit der Auswirkung, dem letzten Kapitel einer Geschichte, aber es gab immer eine Entstehungsgeschichte, einen Grund, und die folgten üblicherweise einem Muster. Gewalt existierte nicht im luftleeren Raum, am wenigsten Gewalt gegen Frauen und Kinder. Sie wollte unbedingt sichergehen, dass die Arbeit, die sie tat, Wirkung zeigte. Dass durch ihren Beitrag zur Ergreifung der Mörder, Vergewaltiger, Kindesentführer und -misshandler die Zahlen in den Statistiken sanken. Dass die Polizei in London und im ganzen Land den Kampf gewinnen, das Blatt wenden, einen Ansteckungsherd nach dem anderen trockenlegen, die Ausbreitung des Virus stoppen und dem Wahnsinn die Existenzgrundlage entziehen würde. Doch als ihr Blick an den Zahlenreihen auf dem Ausdruck entlangglitt,
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