Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen

Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen

Titel: Hudson River - die Kunst, schwere Entscheidungen zu treffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: GABAL Verlag
Vom Netzwerk:
zerrende Luftstrom für den nötigen Auftrieb. Steil hebt die Boeing ab und steigt der Wolkendecke entgegen. Ich schaue ihr hinterher, bis sie nur noch ein Punkt ist.
    Bis mein eigenes Flugzeug geht, habe ich noch eine Dreiviertelstunde. Zeit, die ich bis zur letzten Minute hier auf der Plattform verbringe. Die A340 dort drüben geht nach San Francisco, 345 Plätze und knapp 7000 Kilometer Reichweite. Und die Triple Seven daneben hat eine Reisegeschwindigkeit von Mach 0,83. Mich packt Sehnsucht.
    Schon als Kind wollte ich Pilot werden. So einen silbernen Flieger selbst lenken, dafür verantwortlich sein, dass der Koloss in der Luft bleibt – und sicher auf den Boden zurückkommt. Mit 14 habe ich mit dem Segelfliegen angefangen; früher ging es nicht. Das ist großartig, ein tolles Erlebnis. Für mich aber sollte es nur der Auftakt zu meiner Pilotenkarriere sein. Mit 25 würde ich am Steuer der ganz großen
    Vögel sitzen – dachte ich. Der Fliegerarzt, der mich damals untersuchte, haute die Schubumkehr rein: »Minus 2,25 Dioptrien und Astigmatismus auf dem rechten Auge – fürs Segelfliegen reicht das. Das kannst du mit einer Brille ausgleichen. Aber für einen Profipiloten sind deine Augen zu schlecht.«
    Smash! Als hätte mir jemand von hinten mit voller Wucht in die Kniekehlen getreten. Mein Magen verwandelte sich in einen Eisklumpen. Ich setzte mein Pokerface auf und verließ wie in Trance die Praxis.
    Am nächsten Tag musste ich wieder zur Schule – verdammt noch mal, ich war 14! Aber ich wusste nicht mehr, wofür ich lernte. Die Luft war raus. Als ich die Schule hinter mir hatte, habe ich einen Weg jenseits der Pilotenausbildung gesucht, probierte verschiedene Berufe aus. Doch immer fühlte ich mich als halbe Portion, und das bei 1,83 Meter Körpergröße und 83 Kilo.
    Als ich die Boeing in den Wolken verschwinden sehe, bin ich gerade auf dem Weg zu einem Wochenend-Trip nach Hamburg. Noch eine gute halbe Stunde bis zum Boarding. Aber mein Platz ist 16A, nicht das Cockpit.
    Mit einem Mal fällt der Groschen. Was bin ich nur für ein Depp gewesen! Warum nur habe ich damals so schnell aufgegeben? Warum habe ich das Urteil akzeptiert? Warum in Teufels Namen habe ich diesem Fliegerarzt die Macht über mein Leben zugestanden?
Wer steuert?
    Ich bin nicht der Einzige. Nicht der Einzige, der jahrelang etwas tut, was meilenweit von dem entfernt ist, was das Richtige für ihn wäre. Die meisten Leute machen einen Job, den sie nicht wirklich wollen. Sie generieren Zahlenkolonnen, während ihre Hirnwindungen danach lechzen, kreativ zu sein. Sie hocken hinter Glasfassaden und präsentieren im Meeting das geniale Design der neuen Erdnussbutter-Verpackung, während ihr Körper danach schreit, Höchstleistungen zu bringen. Oder sie tüfteln im Labor, obwohl ihnen schon in der Schule klar war, dass sie sich mit Sprachen am wohlsten fühlen.
    Der Effekt: Sie alle fühlen sich leer und unter- oder überfordert. Sie alle sehnen sich nach dem Wochenende. Und am Wochenende quälen sie sich im Fitnessstudio beim Power-Cycling ab oder besuchen Tante Erna, mit der sie außer der Tatsache, dass sie die Witwe von Onkel Georg ist, nichts, rein gar nichts verbindet. Oder anders gesagt: Wenn der Urlaub die schönste Zeit des Jahres ist, dann kann etwas nicht stimmen.
    Nicht das zu tun, was in einem steckt, macht zutiefst unglücklich. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes trostlos. Denn eine misslungene Partnerschaft wird nicht durch einen tollen Job ausgeglichen. Und das nagende Gefühl, etwas zu verpassen, wird durch glückliche Kinderaugen nur für kurze Zeit betäubt. Es ist so: Wenn es in einem Lebensbereich nicht stimmt, färbt das unweigerlich auch auf alle anderen Bereiche ab. Unzufriedenheit im Beruf macht das Familienleben morsch, der falsche Partner lähmt die Lebensfreude.
    Wenn dich dein Umfeld hemmt, dann befindest du dich nicht über den Wolken, sondern 80 Meter unter der Wasseroberfläche, wo bei gutem Wetter und klarem Wasser gerade noch letzte Sonnenstrahlen sichtbar sind.
    Du verschwendest kostbare Lebenszeit mit Nichtigkeiten – 4000 Meter unter null; rabenschwarze Tiefsee.
    Du verpasst all das, wofür du geschaffen wurdest – du hockst am Grund des Marianengrabens und der Druck von 1000 Bar macht dich platt.

    Meine Antwort auf die Frage, was uns daran hindert, genau das zu tun, was uns bestimmt ist, wofür wir geboren wurden, lautet:
    Die Erwartungen anderer Menschen.
    Und: Gewohnheit.
    Eine brandgefährliche

Weitere Kostenlose Bücher