Huff, Tanya
gibt
Geschichten."
„Geschichten?"
„Vicki: Wir jagen allein. Mit Ausnahme der Zeit des Wechsels sind wir nie
mit anderen Vampiren zusammen. Aber man hört Ge schichten."
„Klatsch und
Tratsch unter Vampiren?"
Er zuckte
etwas unangenehm berührt die Achseln. „Wenn du so willst."
„Was besagen diese Geschichten?"
„Sie sagen, daß manchmal, wenn wir alt werden, wenn das Ge wicht all
dieser Jahrhunderte zuviel wird, der Punkt kommt, an dem wir die Nacht nicht länger ertragen können und uns
an die Sonne ausliefern."
„Bevor das geschieht, kommen die Träume?"
„Das weiß ich
nicht."
Sie schloß die Hände um die seinen. „Nun gut. Eins nach dem anderen. Bist
du des Daseins müde geworden?"
„Nein." Dessen zumindest
war er sich sicher, und der Grund dafür starrte ihn
gerade intensiv an und war weniger als eine Armlänge von ihm entfernt. „Aber Vicki: Soviel ich mich auch verändert haben mag, mein Körper, mein Verstand, die sind immer noch eigentlich die eines Menschen. Vielleicht..."
„Altersverschleiß?" unterbrach sie ihn und verstärkte ihren Hän dedruck. „Eingebaute Abnutzung? Man geht in sein fünftes Jahrhundert,
und das Ganze kriegt Risse?" Sie zog die Augenbrauen zusammen, und ihre Brille rutschte ihr von der Nase. „Das glaube ich nicht."
Henry langte hinüber und rückte die Brille zurecht. „Den Träumen nicht zu glauben geht auch nicht", sagte er leise.
„Nein", gab Vicki zu. „Das geht nicht." Sie seufzte tief,
dann verzog sich einer ihrer Mundwinkel. „Es wäre ja
durchaus sinnvoll, wenn ihr mal ein bißchen mehr
kommunizieren würdet, dann müßten wir jetzt nicht im
Blindflug vorgehen - vielleicht solltet ihr einen Rundbrief herausgeben
oder so was." Sie hatte gewußt, daß diese Bemerkung ihn zum Lächeln
bringen und etwas entspannen würde. „Henry, vor noch nicht einmal einem Jahr habe ich weder an Vampire noch an Dämonen noch an Werwölfe noch an mich selbst
geglaubt. Jetzt weiß ich es besser. Du bist nicht verrückt! Du willst
nicht endgültig sterben, und daher wirst du
dich auch nicht der Sonne aussetzen. Quot
errat demonstrandum."
Es ging nicht anders, er mußte ihr glauben. Die Art, wie sie klar und von ihrem Standpunkt als Sterbliche aus an die Sache heran ging, bannte das Monster Wahnsinn. „Bleib bis zum Morgen", bat er, und einen Augenblick lang konnte er nicht glauben, daß diese Worte wirklich aus seinem Mund stammen sollten. Genausogut hätte er sagen können: Bleib, bis ich hilflos werde. Es lief auf dasselbe
hinaus. War sein Vertrauen in sie so stark? Er sah, daß sie alles
verstanden hatte und ihm durch ihr Zögern
Zeit geben wollte, seine Bitte zurück zunehmen,
und ihm wurde plötzlich klar, daß er das gar nicht wollte, daß er ihr in der Tat so sehr vertraute.
Vor
vierhundertfünfzig Jahren hatte er gefragt: „Können wir lie ben?"
„Kannst du
daran zweifeln?" war als Antwort gekommen.
Die Stille dehnte sich. Er mußte sie durchbrechen, ehe sie ihn und Vicki entzweite, ehe sie Vicki in Stücke riß, sie dazu zwang, zu hören, was
sie, wie er genau wußte, noch nicht zu hören bereit war. „Du kannst mich ans Bett fesseln, wenn ich
anfange, etwas Dummes zu tun." ,
„Dumm nach meiner Definition oder nach deiner?" Vickis Stimme klang
angespannt.
Ganz oder gar nicht. „Nach deiner." Er lächelte, drückte einen Kuß auf ihr Handgelenk und wandte sich zum Fenster. Wenn Vicki ihn für normal hielt, dann mußte er das selbst auch tun. Vielleicht war es erst einmal gar nicht so wichtig herauszufinden, warum er von der
Sonne träumte. Vielleicht galt es als erstes herauszufinden, wie er mit den Träumen
umgehen sollte. „Mehr Dinge zwischen Himmel und auf Erden ...", sinnierte
er.
Vicki ließ sich in die Sofakissen zurückfallen. „Mein Gott, das Zitat fängt an, mir
zum Halse herauszuhängen."
vier
Vicki hatte
schon tausend Morgengrauen erlebt, aber noch keines so wie an diesem Morgen.
„Kannst du sie spüren?"
„Was soll ich spüren können?" Noch halb schlafend hob sie den Kopf von Henrys Schoß.
„Die Sonne."
Ein
plötzlicher Adrenalinstoß ließ sie vollends wach werden, und sie beugte sich
rasch vor, um prüfend in das Gesicht ihres Freundes zu blicken. Er wirkte sehr angespannt, mit zusammengezogenen Brauen und
zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen. Dann blickte Vicki zum Fenster, das nicht nach Osten wies, sondern nach
Süden, durch das man aber dennoch sehen konnte, wie sich der Himmel
heller färbte.
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