Ich, Heinrich VIII.
Finger.
»Gesellschaftsspiele«, sagte ich. »Nichts Anstrengendes. Spiele, die Männern und Frauen, Knaben und Mädchen ermöglichen, sich die Zeit zu vertreiben, zusammenzukommen, sich in ihren schönsten Kleidern zu zeigen. Wie wäre es mit Blindekuh?«
»Oh, das natürlich. Ich spiele gern ›Bienchen in der Mitte‹. Man muss aufpassen, dass man nicht gestochen oder erkannt wird.«
»Oh! Oh!« Edward klatschte in die Hände.
»Kann er das auch spielen?«, fragte ich.
»Das kann man in jedem Alter spielen«, versicherte sie mir. »Selbst wenn man so alt ist wie Sir Anthony Browne. Und Brandon.«
Brandon? Alt? Er war in den Fünfzigern. Ja, alt.
»Und mein Onkel Norfolk. Und« – sie brach in Gelächter aus – »meine Stiefgroßmutter, die Herzogin von Norfolk!«
»Die alte Vettel?«, höhnte Maria. »Die würde ich gern einmal mit ihrem früheren Mann in einer Ecke sehen. Sie würde ihn schlagen, wie sie vor zwei Jahren seine Geliebte geschlagen hat!«
»Nein, ihr Mann würde sich wieder auf sie setzen, wie damals, als sie Blut gespuckt hat.«
Woher wussten sie so gut Bescheid über Norfolk und sein Dreiecksverhältnis?
»Wir brauchen noch ein Spiel«, erklärte ich prüde. »Was sagt ihr zu ›Pantoffelsuchen‹?« Das gehörte zu meinen frühesten Weihnachtserinnerungen.
»Ein Kinderspiel?«, lachte Elisabeth.
»Zu Weihnachten werden wir alle Kinder.«
»Kinder, die sich von ihrer besten Seite zeigen«, erwiderte sie. »Kinder, die Spiele verlieren, ohne einen Tobsuchtsanfall zu bekommen; Kinder, die über die Schlafenszeit hinaus aufbleiben dürfen, weil es keine Schlafenszeit gibt; Kinder, die sich mit Kuchen und Süßigkeiten voll stopfen können, ohne dass jemand schimpft. Und die sich niemals, niemals zanken – denn wer wird sich zanken, wenn alles erlaubt ist?« Sie klang wie ein alter Mann, der in seinen Erinnerungen versunken war.
»Ich habe Kinder gern«, sagte Maria wehmütig und streckte die Hand aus, um Edward das Haar zu zerzausen. Edward stieß sie weg.
Es klopfte diskret an der Tür des Ratszimmers. Petre, der Sekretär des Staatsrates, trat ein und bat um Entschuldigung.
»Der Laird der Westlichen Inseln ist eingetroffen«, meldete er. »Und sein Gefolge verursacht eine gewisse … Unruhe.«
Ich erhob mich müde. Als ich stand, fühlte ich es – einen leichten Schmerz, eine Art Wärme in meinem linken Schenkel. Nein, nein! Nicht wieder das Beingeschwür! Es war geheilt, es existierte nicht mehr. Es war vom Gift der Hexe gekommen, und das hatte endlich seine Wirkung verloren …
Da. Ich hatte es mir eingebildet. Erleichterung durchflutete mich wie warmer Honig. Das hätte ich wirklich nicht ertragen; ich hätte es nicht überstanden, wenn dieses Ding erhalten geblieben wäre.
»Ich muss euch verlassen«, sagte ich zu den Kindern. »Ihr seht ja, wie es ist. Ich danke euch für euren Rat.«
Maria nickte mit schmalen Lippen – eine Geste, die ich in späteren Jahren bei Katharina beobachtet hatte, wenn ihr etwas missfallen hatte. Elisabeth war selbst ungeduldig; sie sah aus, als sei sie bereit, aus dem Ratszimmer zu entfliehen. Wie ich selbst in meiner Jugend. Ja, just so hatte doch Wolsey sich zu Anfang meine Gunst errungen: indem er an meiner statt in stickigen Ratszimmern gehockt hatte.
XCVIII
D ie Zwölf Tage begannen in feierlicher Pracht mit der Mitternachtsmette, die wir privat in der königlichen Kapelle feierten. Sie glitzerte strahlender und war ritualistischer als alles im Vatikan; dessen war ich sicher. Als der Weihrauch zur blau-goldenen Decke hinaufquoll, empfand ich ein Gefühl des Triumphs gegen all jene, die mich ins Lager der Reformer abschieben wollten. Man konnte gegen den Papst sein, ohne unbedingt auch gegen die Tradition zu sein. Es gab manch einen, der mich für sich nutzbar machen und mit einem Etikett für seine eigenen Zwecke versehen wollte. Was für Toren! Ich war es, der Etiketten und Fraktionen benutzte; ich ließ mich nicht von ihnen einspannen.
Die Weihnachtsfeierlichkeiten erwiesen sich als großer Erfolg. Die Zerstreuungen und Spiele, die wir geplant hatten, unterhielten und bezauberten die Leute. Catherine schien entzückt zu sein, und der eben erlittene Verlust war offenbar vergessen.
Ich hatte seit Jahren nicht mehr vor Zuschauern getanzt. Nicht seit der »Schwarzen Nan« … Aber es wurde Zeit, diese Begabung wieder zum Vorschein kommen zu lassen, wie ich so viele andere wiedererweckt hatte. Also würde ich tanzen, in der Neunten
Weitere Kostenlose Bücher