Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
Vom Netzwerk:
wahr als solche, die man in allen Einzelheiten offenbarte.
    »Darf ich mich unter vier Augen von Maria verabschieden?«
    »Natürlich«, sagte ich. »Sie wäre traurig, wenn Ihr es nicht tätet.«
    Chapuys verließ England. Wieder eine Brücke zur Vergangenheit abgerissen. Früher oder später – sofern man es erlebt – verschwinden sie alle. Der Prozess der Zerstörung ist unausweichlich; in den Ruinen von Gebäuden nehmen wir ihn ganz bereitwillig wahr, nicht aber in uns selbst. Ich fragte mich, wie es wohl sein mochte, hundert Jahre alt zu werden. Manche Menschen erreichten dieses Alter. Es gab einen Landstrich in Wales, wo angeblich eine Gruppe außergewöhnlich alter Menschen lebte – Männer und Frauen von achtzig oder neunzig Jahren, deren Eltern noch am Leben waren. Vielleicht gelangte man da über den Zeitpunkt hinaus, wo alle Brücken abgerissen wurden. Wenn man ihn hinter sich hatte, musste man sich doch fühlen wie neugeboren. Man schwebte in einer endlosen Gegenwart, ohne jegliche Vergangenheit und doch losgelöst von den betriebsamen Jungen … Dies, glaube ich, wäre das »Fegefeuer«, das die Theologen erforschen. War es ein Lohn oder eine Strafe? War es der Segen einer vollkommenen Freiheit, oder war es das selbstgenügsame Nichts?
    Was immer es war, ich würde es wohl kaum erleben. Ich lebte jetzt schon so lange wie mein Vater, länger als fast alle meiner nahen und weniger nahen Verwandten. Die Tudors waren kein Stamm, dessen Mitglieder lange lebten auf Erden, mochten sie Vater und Mutter noch so sehr ehren.

CXVIII
    U m eines musste ich mich noch kümmern, ehe ich mich auf den Ärmelkanal hinauswagte: Ich würde Holbein veranlassen, das formelle dynastische Porträt der Tudors auf der Wand des großen Audienzsaals zu Whitehall endlich fertig zu stellen. Dort konnte, wer zu mir kam, auch meinen Vater sehen, den Begründer unserer Größe, und meine sanfte Mutter, die dadurch, dass sie zu ihm ins Ehebett stieg, die Thronansprüche des Hauses York beendete. Holbeins Genius würde dafür sorgen, dass wir alle an der Wand vereint sein würden, wie wir es im Leben nie gewesen waren: Jane und der kleine Edward würden einander zärtlich anschauen. Mein Vater würde seine Enkelkinder sehen, und Jane und meine Mutter würden beide in meiner Reichweite sein und mich nie mehr verlassen. Die Kunst ist grausam, denn sie feiert, was niemals war. Die Kunst ist gütig, denn sie schafft, wonach wir uns sehnen, und gibt unseren Wünschen Substanz, unvergängliche Substanz.
    Das Posieren fiel mir nicht mehr so leicht wie einst. Das lange Stehen behagte mir nicht, und selbst das Sitzen ermüdete mich. Holbein schlug vor, mich auf einem Thron sitzend abzubilden und den Rest der Familie um mich herum zu gruppieren, die Kinder zu meinen Füßen und Vater und Mutter hinter mir auf einer Estrade. Wir ließen aus dem Königlichen Schatz einen hübschen Thron bringen, der irgendwann im vierzehnten Jahrhundert einem irischen Häuptling abgenommen worden war. Er war mit allerliebsten, verschlungenen Schnitzereien verziert. Aber die Armlehnen quetschten meinen Leib zu beiden Seiten derart, dass ich Beklemmungen bekam, und das alte Holz knarrte unter meiner Last und bog sich so, dass ich fürchtete, die Quersprossen könnten brechen.
    Ich war dick geworden, und es blieb nichts weiter übrig, als größere Throne zu beschaffen. Meinen Leib neu zu modellieren war mir unmöglich, und es lag ein gewisses wollüstiges Vergnügen darin, dies zuzugeben und damit über die Verlockungen des Versuchs, mich doch noch zu ändern, hinwegzugehen, denn dieser Versuch brächte allzu viele schändliche, brennende Erinnerungen zurück. Ich wollte jetzt fett sein. Sollten doch Stühle und Rüstungen und Weiber sich mir anpassen, statt umgekehrt. Im Alter und in der Hässlichkeit lag Freiheit, eine Freiheit, wie die Jungen und Hübschen sie sich niemals vorstellen konnten.
    Endlich hatte Holbein sich für eine Komposition, eine Gruppierung, entschieden. Von den sieben Menschen waren drei tot. Er wollte meines Vaters Totenmaske und das Begräbnisbild meiner Mutter als Modell nehmen. Beides wurde in einer Krypta in der Westminster-Abtei, unweit von ihren Grabstätten, aufbewahrt. Bei Janes Porträt war er auf das Bild angewiesen, das er in seinem Herzen trug, und auf ein paar alte Kohleskizzen von ihr, die er in seiner Werkstatt hatte.
    Jane … Als Holbeins geschickter Pinsel ihr Bildnis neben dem meinen entstehen ließ, sah ich es mit dumpfem

Weitere Kostenlose Bücher