Ich, Heinrich VIII.
auch gut, trotz jener derzeit von einigen vertretenen Idee, man brauche nur den Königlichen Schatz unter dem Volke zu verteilen, und ein jeder könne sich bis zum Ende seiner Tage von den köstlichsten Speisen ernähren.
Aber ich schweife ab. Ich spreche jetzt als Mann, aber damals war ich noch ein Kind, und die Geschichte von den goldenen Lettern des Königs versetzte mich wie jeden anderen in ehrfürchtiges Staunen. An diesem Abend lag ich im Bett und stellte mir vor, ich sei der junge Prinz. Was für ein Leben hätte ich dann? Ich würde unter weichen Decken ruhen (dachte ich und rieb mich dabei an der kratzend rauen Wolle) und niemals Schulaufgaben machen müssen und Pferde und Falken haben – kurz, alles, was ein unwissender Zehnjähriger sich ausdenkt, wenn er sich das vollkommene Leben eines anderen Kindes vorstellt.
Während der nächsten Woche dachte ich unaufhörlich an den jungen Prinzen Heinrich. Wenn ich aufwachte, war mein erster Gedanke: »Jetzt weckt ihn seine Kinderzofe und kleidet ihn in feinstes Linnen.« Wenn ich zum Spielen hinausging, dachte ich: »Jetzt machen sie Zimmer voller Spielzeug für ihn bereit.«
Tatsächlich irrte ich mich gar nicht so sehr. Gleich bei seiner Geburt hatte der kleine Prinz sein eigenes Personal bekommen. Er hatte einen Siegelbeamten, eine Leibgarde und drei Kapläne, aber auch einen Vorschneider, einen Mundschenk und einen Bäcker – zu seiner Unterhaltung. In Westminster hatte man sogar einen Raum als spätere Ratskammer für ihn reserviert.
Ich spielte vor unserem Hause auf der schlammigen Hauptstraße, als meine Fantasiewelt in Trümmer ging.
»Der Prinz ist tot«, sagte Rob und wischte sich im rauen Wind die Nase. Rob war ein zu groß geratener Junge, der drei Häuser weiter wohnte. Ich weiß noch, dass seine Nasenspitze leuchtend rot war, und Flecken glühten auf seinen Wangen.
»Was?« Ich vergaß, gegen den lederbespannten Ball zu treten.
»Ich sagte, er ist tot. Der neue Prinz.« Rob nutzte mein Innehalten und riss den Ball an sich.
»Was?« Ich beendete das Spiel und lief ihm nach, und immer wieder fragte ich: »Was?«
»Er ist tot, habe ich gesagt. Was ist denn? Bist du taub?« Rob blieb im Schlamm stehen und spreizte entschlossen die Beine. Er funkelte mich an. Ich sah, dass er Frostbeulen an den Händen hatte. Aus den Hautfalten an seinen Fingergelenken quoll es rot.
»Warum?«
»Warum?« Er tat meine Frage mit der Geringschätzung ab, die sie verdiente. »Weil Gott es so wollte. Dummkopf!« Er schleuderte mir den Ball in die Magengrube, dass es mir den Atem verschlug.
Es war eine gute Antwort – just die, welche auch den König heimsuchte, wie ich Jahre später erfahren sollte.
Der König gab seinem Sohn ein Begräbnis, bei dem es an nichts fehlte. Die Kerzen allein auf dem Leichenwagen wogen tausend Pfund. Prinz Heinrich, zweiundfünfzig Tage alt, wurde in der Westminster Abbey zur Ruhe gebettet – dort, wo nur neun Tage zuvor die Mauern von den Rufen des nahen Festturniers widergehallt hatten.
XIX
Heinrich VIII.:
Am nächsten Morgen war in meinen Gedanken kein Platz für das Volk oder für die Frage, was es wohl mit den Fetzen meiner Kleider anfangen würde, und es kümmerte mich auch nicht. Am nächsten Morgen musste ich die Bestattungsvorbereitungen treffen, denn Prinz Heinrich war in seiner Wiege gestorben, als das Schauspiel noch im Gange war. Mein Herkules hatte die Schlangen nicht überwinden können (wer hatte sie gesandt? – denn an Juno glauben wir nicht), und sie hatten ihm die Kehle zugeschnürt.
Wenn er noch lebte, wäre er heute fünfunddreißig.
Hier nahm das Zerwürfnis zwischen Katharina und mir seinen Anfang. Ihre Trauer nahm die Form der Unterwerfung an; sie beugte sich dem Willen Gottes und widmete sich fortan der Erfüllung seiner Gebote, indem sie ein Leben des Gebets und der Huldigung führte. Sie trat in den Dritten Orden des hl. Franziskus ein, eine Franziskanergemeinschaft für solche, die noch »in der Welt« lebten; aber auch dort pflegte man unter seiner gewöhnlichen Kleidung ein raues Gewand zu tragen, und rigoroses Fasten und stundenlange Gebete gehörten ebenfalls dazu. Körperlich blieben die Anhänger dieser Bruderschaft weiter »in der Welt«, aber im Geiste lebten sie schon anderswo.
Ich hingegen wandte mich nach außen. Ich schaute in den einwärts gekehrten Trichter spiritueller Exerzitien, in den Katharina sich gestürzt hatte, und fühlte Schrecken und Abscheu. Ich verstand mich auf Taten
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