Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
irgendwer gesehen?«
Barry wartet eine Minute, ehe er antwortet, obwohl er längst entschieden hat, was er sagen wird. »Der Pförtner.«
Alphonso, unser Nachtpförtner, würde sich zwanzig Minuten später nicht mal mehr erinnern, wenn jemand in unserem Haus eine Fledermauskolonie geliefert bekommen hätte; und er mag Barry, weil er von ihm in jeder Baseballsaison ein paar Karten für die Spiele der New York Yankees bekommt.
»Und wo im Central Park sind Sie gelaufen?«, fragt Hicks.
»Ich bin hier gegenüber rein in den Park und zuerst RichtungSüden gelaufen, dann nach Norden bis zur 110. Straße und wieder zurück«, sagt Barry. »Die übliche Runde.«
»Wie lange haben Sie gebraucht?«
Barry rückt ein wenig mit dem Stuhl und dreht seinen Ehering. »Für die Strecke brauche ich gewöhnlich fünfundvierzig Minuten.«
Barry sieht aus, als würde er ein Lob dafür erwarten, dass er die Meile in sieben Minuten läuft, doch Hicks fragt stattdessen: »Hat irgendwer Sie laufen sehen?«
Was soll der Scheiß,
denkt Barry. »Sicher, wahrscheinlich sogar eine Menge Leute. Aber es ist ja nicht so, dass wir alle stehen bleiben und uns einander vorstellen.«
Das ist doch kein Speed-Dating, Herrgott noch mal,
denkt er.
»Kennen Sie irgendwen, dem Sie zutrauen, dass er Ihrer Frau so etwas antun würde?«, fragt Hicks.
»Keinen Menschen«, erwidert Barry nach einer langen, wohlüberlegten Pause. »Jeder mochte Molly. Sie hatte keine Feinde.« Nicht gerade das höchste Lob, aber Barry glaubt vermutlich, dass er mich damit dem … na ja, dem Himmel eben anempfiehlt.
»Machte sich Mrs. Marx wegen irgendetwas Sorgen?«
Außer meinetwegen?,
fragt Barry sich selbst. »Es gab den üblichen Alltagsärger, aber sie führte ein sehr glückliches Leben.« Luxuriös. Verwöhnt. Privilegiert. Stimmt, stimmt, stimmt.
Dieser Punkt geht wirklich an ihn, und Hicks weiß das.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Besuch, Detective, und ich hoffe« – und
erwarte
, denkt Barry –, »dass die New Yorker Polizei all ihre Kräfte mobilisieren wird, um das brutale Monster zu finden, das meiner Frau das angetan hat.«
Wow,
denkt Detective Hicks,
der prescht ja ganz schön vor, wenn man bedenkt, dass der Tod seiner Frau auch ein simpler Unfall oder vielleicht sogar Selbstmord sein könnte.
»Das ist im Augenblick alles – wir bleiben in Kontakt, Dr. Marx«, sagt er und steht auf. »Und entschuldigen Sie bitte noch einmal die Störung.« Er schüttelt Barry die Hand und reicht ihm seine Visitenkarte. Mirfallen seine Hände auf, große, kräftige Hände, die genauso gepflegt sind wie die meines Ehemannes.
»Keine Ursache«, sagt Barry und steckt die Karte in die Tasche. Als der Detective gegangen ist, seufzt Barry. Es klingt wie das Stöhnen eines alten Mannes. Zwei Minuten später ist auch er aus dem Haus. Es regnet, aber er hat seinen Regenschirm vergessen.
Ich gehe nach Annabel sehen. Sie spielt schon die ganze Woche lang Rabbi und sitzt mit ihren Puppen Schiwe. Ich bin die schöne Blonde, Elizabeth, die Tee serviert und schon richtig gut schreiben kann. Und ich, also Elizabeth, habe die Woche schlafend verbracht. Ich frage mich immer, ob Annabel mir wohl erlaubt, wieder aufzuwachen.
»Du fehlst mir, Mommy«, sagt sie. »Ich liebe dich.« Zärtlich steckt sie die zerschlissene Decke um Elizabeth herum fest. Um mich herum. »Ist dir auch warm genug, Mommy?« In ihrem rosa Flanellnachthemd läuft sie barfuß quer durchs Zimmer zu ihrer Spielzeugkiste und wirft ein Teil nach dem anderen auf den Boden, bis sie einen kleinen Plastikteller findet, auf dem ein winziges braunes Muffin klebt. Sie stellt ihn neben Elizabeth. »Du hast bestimmt Hunger, Mommy«, sagt sie. »Du musst essen.« In ihrem singenden Tonfall erkenne ich meinen eigenen wieder.
Um Punkt Viertel nach acht klopft Delfina ganz leise an die Tür und öffnet sie, wobei sie
» Good Morning, Sunshine «
singt. Sie betrachtet das Durcheinander – überall liegen Spielsachen und Bücher herum, doch die Puppen sitzen alle ordentlich aufgereiht zum Gebet da.
»Du bist ja schon richtig fleißig gewesen«, sagt Delfina liebevoll. »Mach dir keine Sorgen – ich pass auf deine Freundinnen hier auf, aber jetzt müssen wir dich anziehen. Zeit, wieder in den Kindergarten zu gehen.«
Annabel rührt sich nicht.
»Was möchtest du anziehen?«, fragt Delfina. »Such dir was aus.«
Meine Tochter wühlt in ihrer Kleiderkommode und zieht einen Sweater mit dazupassender
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