Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
Männerstimme.
»Nojoud hat gewonnen, Nojoud hat gewonnen!«, ruft es im Chor.
Kaum bin ich durch die große Tür getreten, finde ich mich von etwa dreißig Personen umringt, die mich mit großen Augen ansehen. Applaus brandet auf, man zwinkert mir zu, lächelt mich an, Handküsse fliegen durch die Luft. Ich zwicke mich in den Arm, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träume. Der »große Anlass«, das bin heute ich!
Nun regnet es von allen Seiten Geschenke! Hamed ist der Erste, er überreicht mir einen riesigen roten Teddybären. Er ist so groß, dass er mir fast bis zu den Schultern reicht. Auf seinem runden Bauch trägt er ein großes Herz, auf dem Buchstaben stehen, die ich nicht entziffern kann.
»Da steht ›I love you‹«, erklärt mir Hamed. »Das ist Englisch und heißt ›Ich liebe dich‹.«
Ich weiß gar nicht, wohin mit den vielen Päckchen, die mir von allen Seiten gereicht werden. Eine nach der anderen öffne ich die Schleifen, jedes enthält eine Überraschung: ein kleines elektrisches Klavier, Malstifte, Zeichenblöcke, eine Fulla-Puppe, wie ich sie beim Richter Abdel Wahed gesehen habe.
Ich suche nach Worten, um meine Dankbarkeit auszudrücken, aber ich finde nur ein einziges:
»Shokran!«,
rufe ich lächelnd.
»Danke!«
Nun fordert mich Nadia auf, den Kuchen anzuschneiden. Ein Schokoladenkuchen, mein Lieblingskuchen! Er ist mit fünf roten Kirschen dekoriert. Da kommt mir plötzlich die Erinnerung, wie ich mit Mona in Sanaa über die Hayle Avenue gebummelt bin. Wie oft hatte ich, die Nase an die Schaufenster der Läden gepresst, von einer Hochzeitsfeier mit Geschenken und Abendkleidern geträumt? Aber es ist ganz anders gekommen.
Verglichen mit den Träumen, die man hat, kommt einem die Wirklichkeit manchmal sehr grausam vor. Aber sie kann auch schöne Überraschungen bereithalten.
Heute ist ein richtiges Fest. Wäre es ein Nachtisch, so wäre er nicht nur süß, sondern auch noch mit dicker Glasur und dazu innen herrlich weich. Genau wie meine Lieblingsbonbons mit Kokosnussfüllung.
»Die Scheidungsfeier ist ja viel besser als die Hochzeitsfeier!«, rufe ich und schließe meinen großen Teddybären in die Arme.
»Welches Lied sollen wir dir denn zur Feier des Tages singen, Nojoud?«, fragt mich Nadia.
»Ich weiß nicht«, murmele ich unentschieden.
Doch Shada hat eine Idee: »Warum singen wir nicht einfach ›Happy Birthday‹?«, schlägt sie vor.
»›Happy Birthday‹? Was ist das denn?«, frage ich, ein wenig verwundert.
»Nun, das singt man an dem Tag, an dem jemand geboren worden ist.«
»Ach so. Nur …«
»Was denn?«
»Ich weiß ja gar nicht, an welchem Tag ich geboren wurde.«
»Das macht nichts. Dann ist eben ab heute dieser Tag dein Geburtstag!«, ruft sie.
Alle applaudieren.
»Happy Birthday, Nojoud! Happy Birthday!«
Ich lache fröhlich. Es ist so einfach, glücklich zu sein, wenn man unter lauter lieben Menschen ist!
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9. Mona
Juni 2008
S eit ich geschieden bin, ist mein Leben wie verwandelt. Ich weine nicht mehr. Ich habe immer seltener Alpträume. Was ich durchlitten habe, hat mich auch stärker gemacht. Wenn ich aus dem Haus gehe, kommt es vor, dass mich die Frauen aus der Nachbarschaft ansprechen und mich beglückwünschen.
»Mabrouk!«,
rufen sie mir zu – ein Wort, an das sich für mich böse Erinnerungen knüpfen, das ich nun aber wieder gern höre. Dabei kenne ich viele der Frauen gar nicht! Auch wenn ich dann erröte, im Innern bin ich sehr stolz!
Ich fühle mich nun viel stärker. Ich höre genau hin, wenn geredet wird. Langsam lüften sich für mich all die Geheimnisse um meine Familie, meine Schwestern, meine Brüder. Die Geheimnisse um Mona vor allem. Das komplizierte Puzzle setzt sich Stück für Stück zusammen …
»Wartet, ich komme mit!«, ruft Mona und läuft zum Auto.
Heute ist Eman gekommen, eine Aktivistin, die sich für die Rechte der Frauen einsetzt. Sie besucht mich zu Hause, begleitet von einer ausländischen Journalistin. Seit kurzem lebe ich nicht mehr bei meinem Onkel, sondern wieder bei meinen Eltern. So ist es besser.
Meine Eltern sind in ein anderes Viertel gezogen, nach Dares, das liegt an der Straße zum Flughafen. Es ist ein kleines Häuschen, nur zwei Zimmerchen. An die Wände gelehnte Polster sind die ganze Einrichtung. Nachts wird man oft vom Lärm der landenden Flugzeuge geweckt.
Aber hier kann ich wenigstens ein Auge auf Haïfa haben, sie beschützen. Falls jemand auftauchen sollte und sie
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