Im Bann der Dämonin
beeindruckender als jede Kirche und jeder Palast, ganz egal, welche architektonischen und kunsthistorischen Schätze sie waren. Das hier war schöner als jedes Gemälde, als jede Skulptur, als jeder Edelstein. Großartiger als jedes Violinkonzert, jeder Tanz, jedes Glas Wein und jeder Teller Risotto.
„Wir befinden uns auf dem berühmtesten Glockenturm der Stadt“, erklärte Luciana. „Hier hat Galileo Galilei dem Dogen zum ersten Mal sein Teleskop vorgeführt. Das war vor über vierhundert Jahren.“
Brandon sah alles andere als beeindruckt aus. Er lehnte sich über die Brüstung des Backsteinbauwerks und sah hinunter. „Und wie kommen wir hier wieder runter?“
„Im Moment gar nicht. Genieß einfach den Blick. Um diese Uhrzeit kommt so gut wie niemand hier herauf.“
Nur einige von Lucianas wertvollsten Opfern hatten diesenmitternächtlichen Ausblick genießen dürfen. Und bisher war jedes dieser Opfer beeindruckt gewesen von der Aussicht und den riesigen Glocken, die über ihnen hingen. So waren sie alle aus dem Leben geschieden und hatten davor noch ein einzigartiges Erlebnis gehabt, das Luciana ihnen ermöglicht hatte.
Brandon schien dieses Privileg nicht zu schätzen.
Egal. Sie würde schon dafür sorgen, dass es auch ihm hier oben gefallen würde.
Also begann sie, dieselbe Geschichte zu erzählen, die sie allen ihren Opfern hier oben erzählte.
„Das ist mein Lieblingsort. Hier komme her, wenn ich allein sein will. Wenn ich der Welt um mich herum entfliehen will.“ Sie bedachte ihn mit einem scheuen Blick. „Um den Kopf freizubekommen und um die Schönheit Venedigs zu genießen.“
„Du warst also noch nie mit einem anderen Mann hier oben?“ „Selbstverständlich nicht“, log sie und klimperte dabei effektvoll mit den Wimpern.
„Selbstverständlich doch.“ Er begann zu lächeln. „Die Frage ist nur: Wie viele waren es?“
„Wieso fragst du eigentlich, wenn du die Antworten ohnehin schon kennst?“
„Immerhin sind jetzt nur wir beide hier.“ Brandon grinste. „Ich hatte schon befürchtet, hier erwartet uns die nächste Orgie.“
„Nein, hier sind nur wir beide.“
Engel und Dämonin schwiegen, und Luciana dachte an die goldene Wetterfigur auf der Spitze des Campanile. Sie stellte den Erzengel Gabriel dar. Es hatte ihr immer einen besonderen Kick verschafft, ihre Opfer unter den Augen der Engel und Heiligen zu verführen. Aber das brauchte Brandon nicht zu wissen. Noch nicht.
Wir können nicht Feinde und Liebende zugleich sein, wurde ihr plötzlich bewusst. Entweder – oder. Wir müssen uns entscheiden.
„Denk doch nur, wie schön dein Leben sein könnte! Dukönntest immer in absolutem Prunk leben.“ Sie ließ ihre Fingerspitzen über seine Brust gleiten. „Du könntest um die Welt reisen. Eine Zweitwohnung in London oder Paris besitzen, in Hongkong oder Dubai. Du könntest Maserati oder Ferrari fahren. Die Möglichkeiten sind endlos. Du könntest so viel mehr sein als nur ein Supervisor in der Kompanie der Amateure. Du könntest ein Erzdämon sein.“
Sie spürte, wie sich sein Körper unter ihrer Berührung verkrampfte.
„Versuch gar nicht erst, mir das einzureden. Nichts auf dieser Welt kann mich locken.“
„Tatsächlich nicht?“
Er schüttelte den Kopf, aber sie konnte die Lüge in seinen Augen lesen.
„ Mi arrendo – ich gebe auf. Dann sag mir, was du willst! Flüstere es mir ins Ohr!“
Er beugte sich zu ihr, doch er zögerte kurz, bevor er ihr ein einziges Wort zuflüsterte: „Genug.“
Und dann begann er, an ihrem Ohrläppchen zu knabbern. Sie war überrascht von seiner Zärtlichkeit. Sie drängte sich an ihn heran, spürte seine harten Brustmuskeln unter ihren weichen Handflächen. Sein Atem brannte heiß auf ihrem Ohr.
Die Lippen dicht an ihrem Hals, murmelte er: „Keine Spielchen mehr.“
Arielle saß vor der Tür zu dem Zimmer, in dem Brandon schlief.
Schlafen. Das war das Einzige, was er sich zu tun gewei-gert hatte, als sie beide zusammen gewesen waren. Während sie jetzt darauf wartete, dass er aufwachte, dachte sie an den Tag, als sie ihn zum ersten Mal im Hauptquartier in Los Ange-les gesehen hatte.
Es war so heiß gewesen an diesem Tag, dass das Außenthermometer geplatzt war.
Brandon Clarkson war anders als alle anderen frischgebackenenEngel gewesen. Ab dem Augenblick, als er durch die Türen der Rechtsberatungsstelle getreten war, war nichts mehr wie vorher. Die Büroräume kamen ihr plötzlich viel zu klein vor – als wollten sie
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