Im Bann der Dämonin
geflügelten Figur, die ein Engel oder ein Dämon sein konnte und der die Erosion mittlerweile ein groteskes Aussehen verliehen hatte. Sie bückte sich und fuhr mit den Fingern über die in den Stein gemeißelten Namen.
Lorenzo Rossetti, 1727-1784. Padre.
Maria Elena Rossetti, 1732-1787.
Madre. Carlotta Rossetti, 1761-1783. Sorella.
Vater, Mutter, Schwester.
Ein leeres Grab, ein leeres Monument – das war der einzige Hinweis auf die Existenz der drei Seelen, deren menschliche Überreste verloren gegangen waren. Vielleicht lagen sie unter den Pflastersteinen der Stadt begraben, vielleicht in einem der öffentlichen Brunnen, zu denen man früher häufig die Leichen armer Leute gebracht hatte. Die Existenz von drei Menschen, an die die Erinnerung durch die Hand Satans ausgelöscht worden war.
Luciana grub ein kleines Loch in die Erde und legte den Ohrring hinein.
Sie sprach einen stummen Abschiedsgruß und schüttete dann das Loch wieder zu.
„Jetzt wird der Ohrring bei den beiden Frauen ruhen, die ihn trugen“, erklärte sie Massimo. „Bevor ich sie erbte, gehörten sie meiner Mutter. Und dann trug Carlotta sie. Immerhin blieben sie in der Familie.“
Er gab keine Antwort, sondern stand nur stumm da, sein Gesicht so weiß und starr wie Stein.
„Ich werde ihren Tod rächen“, schwor Luciana. „Diese Tat wird nicht ungesühnt bleiben.“
„Glauben Sie wirklich, Sie können sich mit Corbin messen, baronessa ?“
„Ich muss es versuchen.“
„Die Frage ist: Wen hassen Sie mehr? Corbin oder die Kompanie der Engel?“
„Ich hasse sie alle gleich viel. Und daher muss ich meine Rache auch gleichmäßig auf alle verteilen. Aber du hast recht. Wir müssen unsere Schlachten klug planen, Massimo. Und da die Kompanie unsere drängendste Sorge ist, sollten wir unsere Anstrengungen zunächst auf sie konzentrieren. Aber denk an meine Worte! Die Zeit wird kommen, wenn ich mich an Corbin rächen werde!“
Massimo und sie drehten sich gleichzeitig um.
Hinter ihnen stand der Engel. Er hatte seinen Blick auf die frische Erde am Fuß des Grabmals gerichtet. Jetzt las er die Inschriften auf dem Stein.
„Welche Ironie! Die Dämonin begräbt ihre Familie in geweihter Erde.“
„Ihr Engel seid solche Schwachköpfe! Keiner von euch hat in den letzten Jahrhunderten auch nur ein Flüstern über all das verloren. Und wo ist dein wertvoller Michael jetzt?“, zischte sie ihm entgegen.
„Er ist vielleicht nicht hier“, sagte Brandon. „Aber ich.“
„Wieso bist du hergekommen? Um mich noch mehr zu quälen? Das ergibt keinen Sinn. Reicht es nicht, dass sie tot ist?“ „Was ist passiert?“
Sie streckte die Hand aus und berührte den untersten der eingemeißelten Namen. Anstatt zu antworten, gelang ihr nur ein schwaches Kopfschütteln, und eine einsame Träne lief ihr über die Wange. Sie wischte sie ab.
„Du kannst alldem ein Ende setzen, Luciana. Und ich kann dir dabei helfen.“
Sie war so müde, so schwach. Wie gerne würde sie Brandons Worten glauben!
„Komm jetzt mit mir, nur für eine Weile. Irgendwo muss es einen Ort geben, an den wir gehen können, um zu reden. Nur wir beide.“
Sie sackte nach vorn, stützte sich am Grabmal ab und lehnte sich gegen den mächtigen alten Stein. Sie, die sich immer ihrer Stärke und ihrer Überlebensfähigkeit gerühmt hatte, fühlte sich mit einem Mal so zerbrechlich. Vertrocknet wie die Blütenblätter auf den Gräbern um sie herum. Als würde sie bei der leisesten Berührung auseinanderbrechen.
Sie wandte sich an ihren Türhüter und sagte: „Massimo, bitte lass uns allein! Nimm das Boot und fahr nach Hause!“
„Baronessa?“
„Geh!“ Luciana scheuchte ihn mit einem Winken davon. „Ja, es gibt einen Ort.“
Massimo saß im Boot und machte sich Sorgen.
Er beobachtete, wie der Schutzengel die baronessa auf ein anderes Boot führte und mit ihr in Richtung Lido fuhr.
Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, ihnen zu folgen, doch sie hatte ihm befohlen zu verschwinden. Trotz-dem: Sie hatte schon so viel gelitten. So viel Leid sollte nieman-dem jemals widerfahren.
Der Türhüter verehrte die Dämonin sehr. Soll sie doch ein bisschen Glück erleben mit dem Engel, er wünschte es ihr von ganzem Herzen. Liebe hat keinen Platz zwischen Dämonen, aber vielleicht könnte sie zumindest einen Moment des Friedens erfahren. Auch wenn er nicht von Dauer war.
Luciana dirigierte Brandon zum Lido, dem lang gezogenen Strand, an dem sich tagsüber Touristen und
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