Im Bann der Engel
Madame Hazard aus eigener Erfahrung, war beim ersten Besuch zuerst Angst einflößend und nach einer Weile schrecklich anstrengend. Das viele Metall, das Stampfen der Maschinen, die stickige Luft und das ständig flackernde Licht waren enervierend.
»Ewigkeit« war das verabredete Stichwort für Marcellus gewesen, der nun den Raum betrat. Seine Flügel glänzten im Sonnenlicht, sein Körper war makellos. Sein Anblick erregte Madame Hazard aufs Neue. Damit die Vorführung ein voller Erfolg wurde, hatte der Engel auf ein Hemd verzichtet. Seine Muskeln zeichneten sich unter der geschmeidigen Haut ab, kein Muttermal verunstaltete den reinen Körper.
»Das, meine Herren, ist das Resultat meiner Forschungen. Noch vor kurzer Zeit war er ein ganz gewöhnlicher Mann. Jetzt ist er ein göttliches Wesen. Vollkommen in seiner Gestalt.«
Sie machte eine wirkungsvolle Pause und studierte die Mienen ihrer Gäste. Die Gesichter waren voller Staunen, aber sie vermisste offene Münder oder einen spontanen Applaus. Sie fuhr fort: »Und das Beste an ihm ist, er ist unsterblich.«
Fast unmittelbar, nachdem sie die letzten Worte geäußert hatte, beschrieb ein Wurfgeschoss einen silbernen Bogen. Dann schrie Marcellus heiser auf. Das Heft eines Wurfdolches ragte aus seiner Schulter.
Richard Sinclair machte Anstalten, einen zweiten Dolch hinterher zu schicken.
»Was soll das!«, schrie Madame Hazard.
»Ich wollte wissen, ob es wahr ist. Mein erstes Messer hat leider sein Herz verfehlt, das zweite wird treffen.«
»Hören Sie auf!«
Sinclair lächelte wie ein Wolf, als er das Messer in die Schlaufe zurücksteckte, die im Futter seines Gehrocks eingenäht war.
»Es scheint, als wären Sie nicht überzeugt von dem, was Sie uns weismachen möchten.« Ruhig sah er sie an. Es lag kein Tadel in seiner Stimme, lediglich Feststellung.
»Selbstverständlich sage ich die Wahrheit. Aber müssen Sie mir meinen Engel deshalb zerstören? Nur, um einen lächerlichen Beweis zu führen?«
»So wie ich Sie verstanden habe, bieten Sie uns ein Geschenk, das darin besteht, genauso zu werden, wie er.« Dabei deutete Sinclair auf Marcellus, der sich den Dolch mit einem Ruck aus der Schulter zog. Zähflüssiges schwarzes Blut quoll aus der Wunde. Die Verletzung tötete ihn nicht, aber sie schmerzte ihn offensichtlich. Marcellus sah Sinclair wutentbrannt an. Madame Hazard war empört. Und doch imponierte ihr dieser impertinente Kerl. Er blickte hinter die Fassade. Es würde schwer sein, ihn zur Raison zu bringen, aber er war zweifelsohne der Grausamste von ihnen.
»Nun, meine Herren, was denken Sie?«, wandte sie sich an die übrigen Gäste.
Timor Waits war schüchtern, strich sich immer wieder Strähnen seines blonden Haares aus dem Gesicht, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten. Dennoch war es ausgerechnet er, der nach einer Weile des Schweigens das Wort ergriff.
»Zugegeben, die Vorstellung, Flügel zu besitzen, klingt interessant. Aber andererseits möchten wir uns – und ich denke, da spreche ich jetzt für alle – absichern. Wir haben nicht die geringste Ahnung, was auf uns zukommt. Eine Entscheidung zum gegenwärtigen Zeitpunkt halte ich für ausgeschlossen.«
»Ein guter Einwand, Mister Waits, wir werden uns die Stätte der Schöpfung gemeinsam ansehen. Falls Sie noch interessiert sind, werde ich Ihnen alles zeigen.« Madame Hazard freute sich, weil endlich wieder alles nach Plan verlief.
Die Blicke der Herren sagte aus, dass sie dagegen nichts einzuwenden hatten.
Sie ahnen nicht, dass sie die Fabrik nicht als Menschen verlassen werden. Madame Hazard bemühte sich um einen betont mädchenhaften Augenaufschlag und hoffte, dass sie weiterhin unterschätzt wurde.
Elena hievte sich aus dem Sessel und kam sich vor wie eine alte Frau. Betäubt sah sie auf Steven herab, der noch immer vor ihr kniete und sagte mit hohler Stimme: »Ich glaube es ist besser, wenn ich jetzt gehe.«
Lieber lief sie den beiden Verfolgern in die Arme, als den jämmerlichen Anblick des verliebten Steven auch nur einen Augenblick länger ertragen zu müssen.
»Aber du kannst mich doch so nicht zurücklassen«, sagte er weinerlich. »Wir gehören zusammen. Verstehst du das nicht?«
»Ich wünschte, ich könnte Gefühle empfinden. Aufrichtige Liebe oder zumindest ein oder zwei Schmetterlinge im Bauch. Aber da ist nichts. Es tut mir leid«, stieß sie hervor und eilte hinaus.
Er rief ihr noch etwas hinterher, was sie nicht verstand, dann stand sie auf der Straße.
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