Im Mond des Styx - Lohmann, A: Im Mond des Styx
wollte. Das Interesse an den Sternen hatte er verloren.
»Sie konnten mich nicht warnen, als Wanja starb«, pflegte er zu sagen. »Sie konnten mir nicht verraten, wie ich sie rette. Die Gestirne sind wundervolle Edelsteine, mein Kind, aber sie ziehen dort oben so kalt ihre Bahn. Ich glaube nicht mehr, dass die Sterne sich um das Los von uns Sterblichen kümmern, und wir wären närrisch, würden wir ihnen mehr Aufmerksamkeit schenken als sie uns. Wir sollten uns dem zuwenden, was hier bei uns ist, warm und lebendig. Sonst ist es eines Tages fort, und wir merken erst dann, dass wir allein sind unter den Sternen.«
Aber Swetjana erinnerte sich an das stille Glück jener Stunden, die sie hier oben mit dem Vater verbracht hatte, daran, wie ruhig und geduldig er hier immer gewesen war, während er sonst nur durch das Haus gestreift war wie ein flüchtiger Besucher und nie bei ihr stehen blieb, wenn sie ihn anderswo traf.
Daran dachte sie, wenn er heute so gleichgültig von seiner damaligen Leidenschaft sprach, und sie fühlte sich umso mehr dazu ermuntert, ihm das Gegenteil zu beweisen.
Denn die Sterne waren ewig und doch berechenbar, in der Vergangenheit wie in der Zukunft. Sollten die Gestirne mit dem Leben hier unten zusammenhängen, dann wäre das so, als würde alles, was je hier unten war, dort oben für immer weiterleben. Wenn sie ihrem Vater das nur zeigen könnte, dann würde er in das Observatorium zurückkommen, und durch jene Pforten, welche die Mathematik der Gestirne den Menschen eröffnete, könnten sie zurückreisen in jene Zeit, als ihre Familie vereint und sie alle glücklich gewesen waren.
So hatte sich ihre Neugier im Laufe der Jahre immer mehr auf den Styx gerichtet, den geheimnisvollsten aller Himmelskörper, der sich der Mathematik selbst zu entziehen schien. Dem Styx schrieb man darum den größten Einfluss auf das Schicksal der Sterblichen zu, und wenn sie es schaffte, diese Zusammenhänge zu durchschauen – davon war Swetjana überzeugt! –, dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie hätte die Chiffre der Sterne entschlüsselt und würde ihren Vater zurückholen können.
Doch die Sprache der Sterne raunte nicht allein von den tröstlichen Momenten der Vergangenheit. Ebenso gut mochte sie auch ein Tor in die Zukunft aufstoßen, und niemand wusste im Vorhinein zu sagen, ob ihm gefiele, was es dahinter zu sehen gab.
Und allmählich war aus Swetjana dewa Jerigins leidenschaftlichem Forschen am Himmel ein fiebriger Eifer geworden. Ihre Nächte im Observatorium wurden länger, ihre Berechnungen und Tabellen füllten lange Rollen von Papier. Ephemeriden aus verschiedenen Zeitaltern lagen überall aufgeschlagen, Swetjanas rotblonde Locken klebten ihr an der schweißfeuchten Stirn. Sie wusste, ihr blasses Gesicht musste so gerötet sein vom vielen Hin-und-her-Laufen und von der Aufregung, dass ihre drei Sommersprossen neben der Nase gewiss schon ausgelöscht waren.
Aber sie konnte, konnte nicht aufhören, sie konnte nicht zur Ruhe kommen!
Der Türknauf aus Bergkristall drehte sich, ihr Vater trat in den kreisrunden Raum.
»Vater!« Swetjana knickste flüchtig zur Begrüßung, dann widmete sie sich wieder der Forschung.
Juvanov, der Deveni von Jerigin – einer Domäne nahe der Stadt Swerjanja –, war ein großer Mann gewesen. Heute wirkte er hager und wie geschrumpft. Es war nicht so, dass er sichtlich gebeugt gehen würde, vielmehr war es eine fühlbare Bedrückung des Gemüts, die ihn kleiner erscheinen ließ, als er war. Er hatte braune Haare, einen gepflegten Schnurrbart und trug zu dieser späten Stunde einen braunen Morgenrock, aus dessen Brusttasche der Zipfel eines weißen Schnupftuchs lugte.
Er schaute seiner Tochter eine Weile zu, dann sagte er: »Swetja, willst du denn wieder die ganze Nacht hier verbringen?«
Swetjana lächelte. »Vater, Ihr wisst es doch: Die Gestirne kann man nicht bei Tag studieren.«
Dew Juvan seufzte. »Ich weiß. Ich wünschte nur, meine hübsche Tochter würde ihr Gesicht nicht immerzu in der Dunkelheit verbergen. Als ich meine Nächte noch hier oben verbracht habe, war das kein so großer Verlust für die Welt.«
»Ach Vater!« Sie ging zu ihm hin und umarmte ihn. »Sagt doch nicht so einen Unsinn!«
»Es ist wahr, Swetja. Wir haben Frühling, du bist jung. Es ist nicht gesund, wenn du dich die ganze Zeit hier oben verkriechst.«
Swetjana schnaubte. »Ihr übertreibt, Vater. Ich verschlafe ja nicht den ganzen Tag. Aber gerade jetzt … kann ich nicht
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