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Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman

Titel: Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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zufriedenzustellen. Als sie den Raum verließ, um die Kaffeetassen nachzufüllen, hatte er sich vergewissert, dass er nicht gelähmt war. Sobald er allein sein würde, wollte er sich von den Gewichten befreien und sich an die Arbeit machen. Adele und Peat Moss waren irgendwo in den Sümpfen.
    Es klopfte. Florence erhob sich, öffnete die Tür und trat zur Seite. Elisha war gekommen. Seine Schwester starrte ihn mit unergründlicher Miene an. Er versuchte sich aufzurichten, wurde aber wieder nach unten gezogen. Schließlich schaffte er es, sich auf einen Ellbogen zu stützen. »Geh nach Hause, Elisha.« Sein Ton klang härter als beabsichtigt. Schon schlimm genug, dass Florence ihn in diesem Zustand zu sehen bekam, dass Elisha nun auch noch Zeuge davon wurde, war vollends unerträglich.
    »Ich hab gehört, du bist verletzt.« Sie zögerte, blieb im Türrahmen stehen, sah erst zu Florence und dann zu Boden. »Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du Besuch hast.« Rückwärts ging sie hinaus.
    »Warte.« Florence ergriff ihre Hand. »Warte. Bitte, komm rein, und besuch deinen Bruder.«
    »Florence!«, krächzte Raymond.
    »Er ist nur so abweisend, weil er Angst hat.« Beharrlich hielte sie Elishas Hand fest und zog die jüngere Frau ins Zimmer. »Er hat Angst, zum Krüppel zu werden. Das ist so schrecklich, dass er darüber sogar seine Manieren vergisst und« – finster starrte sie ihn an – »jegliches Gefühl für Anstand.«
    Raymond schloss die Augen und verkniff sich die Flüche, die er Florence am liebsten an den Kopf geworfen hätte. Wenn sie ihm die Fahrt nach Baton Rouge auf diese Weise heimzahlen wollte, war ihr das bestens gelungen. »Es geht mir gut, Elisha. Ich bin bald wieder draußen.«
    »Die Leute sagen, du hättest Veedal Lawrence umgebracht. Du hättest ihn absichtlich überfahren.«
    Seine Schwester verurteilte ihn nicht, sie war nur neugierig. Wieder sah er alles vor sich: Veedals Gesichtsausdruck, den dumpfen Aufprall, als sein Körper von der Stoßstange erfasst wurde, das Rumpeln des Wagens, als er ihn überfuhr. »Das stimmt.« Er fühlte weder Reue noch Schuld, und er wollte, dass Elisha es sah – dass sie wusste, wer er wirklich war, damit sie ihn in Ruhe ließ. »Ich würde es wieder tun.«
    »Alle meine Freunde hatten Angst vor ihm.« Sie trat ans Bett und nahm seine Hand. »Es war gut, dass du es getan hast, Raymond.«
    Plötzlich war seine Kehle wie zugeschnürt. Statt etwas darauf zu erwidern, drückte er ihr nur die Hand. Als Kind hatte Elisha ihre dunklen Haare immer geflochten getragen, sie hatte Antoine bei der Arbeit mit den Pferdegeschirren und den Ledersachen geholfen, ihre flinken Finger hatten oft vor dem Neatsfoot-Öl geglänzt, mit denen das Leder weicher gemacht wurde. Sie war Antoines Gehilfin gewesen, seine anhängliche kleine Schwester.
    »Es tut mir leid.« Seine Worte waren nur ein Flüstern. »Es tut mir so leid.«
    Ihre Tränen tropften auf seine Hand, an die sie sich klammerte. »Raymond, komm und besuch Mama. Bitte! Komm am Sonntag zum Essen!«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Was ich getan habe … Wie kann ich ihr unter die Augen treten, wenn ich weiß, wie sehr sie Antoine vermisst?«
    »Wir vermissen ihn alle.« Elisha setzte sich auf die Bettkante, mit beiden Händen hielt sie seine Hand. »Du vermisst ihn. Aber du bist hier, Raymond. Du bist am Leben. Und dich vermissen wir auch.« Sie hob seine Hand an und küsste sie. »Ich vermisse meinen ältesten Bruder genauso wie Antoine.«
    »Der Raymond, den du geliebt hast, ist genauso tot wie Antoine.« Er konnte sie nicht ansehen.
    »Das glaube ich nicht.« Elisha stand auf. »Trotzdem, ich würde es gern selbst sehen. Sonntag, zum Mittagessen. Ich mach dir dein Lieblingsgericht.« Sie ging zur Tür und sah zu Florence. »Danke.« Dann ging sie und schloss hinter sich die Tür.
    Draußen vor dem Fenster schlug ein Eichelhäher an. Florence sah zu Raymond und wartete. Langsam zog sie eine Braue nach oben. Als er nichts sagte, lehnte sie sich wütend gegen den Bettrahmen.
    »Wäre es Buße genug, wenn du nicht mehr gehen könntest? Oder wenn du von der Brust abwärts gelähmt wärst? Würde das reichen? Wenn du vielleicht nicht mehr deine Arme gebrauchen könntest? Wäre das dann Strafe genug?« Sie packte etwas, das auf dem Bett lag. »Hier ist der Umschlag, den dir Madame Louiselle gemacht hat. Warum willst du ihn nicht auflegen?«
    Raymond hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren. Elishas Besuch,

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