Im Schatten der Akazie
wieder um, zog aus der Innentasche seines Mantels einen langen Dolch aus Eisen heraus und überreichte ihn Acha.
»Ein kleines Wunderwerk, findest du nicht? So leicht und handlich, aber dennoch imstande, jeden Schild zu durchbohren.
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Ich habe diesen Dolch meinen Heerführern gezeigt und ihnen gelobt, daß ich ihn mit eigener Hand dem Leichnam meines Bruders Ramses abnehmen werde, wenn er meine Bedingungen ablehnt.«
Die Sonne stand hoch über dem Seth-Tempel, über diesem seltsamsten aller Bauwerke von Pi-Ramses. Das Heiligtum, in dem der Gott des himmlischen Chaos wohnte, stammte noch aus der Zeit der Hyksos, jener verhaßten Herrscher der Fremdländer, die von den ersten Königen der achtzehnten Dynastie vertrieben worden waren. Ramses hatte die unheilvolle Stätte in einen Hort wohltätiger Energie verwandelt. Er hatte Seth getrotzt und sich seine Macht angeeignet.
Hier, in einem verbotenen Bereich, in den nur der Sohn des Sethos einzudringen wagte, schöpfte der Pharao die Kraft, deren er für den bevorstehenden Kampf bedurfte.
Als Ramses den Tempel verließ, kam sein jüngerer Sohn, Merenptah, auf ihn zu.
»Ich habe deinen Auftrag ausgeführt, Vater.«
»Du hast schnell gearbeitet …«
»Aber ich habe bei meinen Untersuchungen keine Kaserne von Pi-Ramses und Memphis ausgelassen.«
»Trautest du den Berichten der hohen Offiziere nicht?«
»Nun …«
»Sprich freimütig.«
»Nein, Majestät, ich traue den Offizieren ganz und gar nicht.«
»Aus welchem Grund, Merenptah?«
»Ich habe sie beobachtet. Sie führen ein Leben in Wohlstand und bauen so sehr auf den Frieden, den du geschlossen hast, daß sie darüber vergessen, ernsthafte Truppenübungen 103
abzuhalten. Unsere Armee verläßt sich auf ihre Stärke, rühmt sich ihrer früheren Siege und schläft dabei ein.«
»Wie steht es um die Bewaffnung?«
»Die Menge ist ausreichend, die Beschaffenheit oft fragwürdig. Die Schmiede arbeiten seit mehreren Jahren sehr gemächlich, viele Streitwagen müßten gründlich überholt werden.«
»Kümmere dich darum!«
»Da drohe ich aber Empfindlichkeiten zu wecken.«
»Wenn das Schicksal Ägyptens auf dem Spiel steht, ist das ohne Belang. Verhalte dich wie ein echter Oberbefehlshaber, schicke träge Offiziere in den Ruhestand, besetze verantwortungsvolle Posten mit zuverlässigen Männern und rüste unsere Armee mit den Waffen aus, die sie braucht.
Erscheine erst wieder vor mir, wenn du deine Aufgabe erfüllt hast.«
Merenptah verneigte sich vor dem Pharao und machte sich auf den Weg zum Hauptquartier.
Ein Vater sollte mit seinem Sohn eigentlich anders sprechen, doch Ramses war der Herr der Beiden Länder und Merenptah sein möglicher Nachfolger.
Iset die Schöne fand keinen Schlaf mehr. Dabei könnte sie sich glücklich preisen: Sie sah Ramses jeden Tag, tauschte Vertraulichkeiten mit ihm aus, war bei den Ritualen und bei öffentlichen Zeremonien in seiner Nähe … Obendrein hatten ihre zwei Söhne, Kha und Merenptah, glanzvolle Laufbahnen eingeschlagen.
Gleichwohl wurde sie immer trauriger und fühlte sich immer einsamer, als ob dieses Übermaß an Glück sie verzehrte und ihrer Kräfte beraubte. Der Grund für ihre schlaflosen Nächte lag auf der Hand: Nefertari war die Baumeisterin des Friedens 104
gewesen, während sie, Iset, als Ursache für einen möglichen Krieg galt. Wie man Helena anlastete, sie habe den Kampf um Troja ausgelöst, so würde Iset in den Augen des Volkes die Schuld an einem erneuten Zusammenstoß zwischen Ägypten und Hatti tragen.
Unter dem Einfluß von Merenptah, dem die hohen Offiziere die Befehlsgewalt nicht streitig machten, brach in Pi-Ramses Kriegsfieber aus. Die Truppen wurden wieder gedrillt, die Herstellung von Waffen beschleunigt.
»Wann kann ich dich schminken, Majestät?« erkundigte sich Isets Leibdienerin.
»Ist der König bereits aufgestanden?«
»Schon lange!«
»Werden wir das Mittagsmahl gemeinsam einnehmen?«
»Er hat deinen Haushofmeister wissen lassen, daß er den ganzen Tag mit dem Wesir und den Kommandanten der kanaanäischen Festungen verbringen wird, die man eilends nach Pi-Ramses berufen hat.«
»Laß meine Sänfte holen!«
»Majestät! Dein Haar ist kaum gekämmt, ich habe dir noch keine Perücke aufgesetzt, ich habe dich noch nicht geschminkt, ich …«
»Spute dich!«
Für die zwölf stämmigen Sänftenträger, die Iset die Schöne vom Palast zum Amtssitz Amenis brachten, war sie eine leichte Bürde. Da die Große
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