Im Schatten der Giganten: Roman
einen schrecklichen Moment dachte ich, sie wollte mich verführen. Dann sah ich den Beutel, den sie an einem Halsband trug.
»Wir haben ihn dir abgenommen, als du in den Höhlen geschlafen hast. Zu jenem Zeitpunkt wussten wir wirklich nicht, auf welcher Seite du stehst. Dann schlug Castilio vor, dich mit der Rettung von Salzleck zu beauftragen, um dich auf die Probe zu stellen und Moaradrid auf unsere Fährte zu locken. Es wäre lächerlich gewesen, dir den Stein zurückzugeben und zu sagen: ›Versuch bitte, dies nicht zu verlieren, während du in Moaradrids Lager bist.‹ Und nachher ergab sich keine Gelegenheit dazu.«
»Prächtig. Ich will das verdammte Ding ohnehin nicht zurück.«
»Solange Moaradrid glaubt, dass du ihn hast, ist alles in Ordnung. Wir könnten den Stein Salzleck geben, ohne dass es einen großen Unterschied macht.«
Ich lachte. »Salzleck, Oberhaupt der Riesen! Was würde er tun? Ich glaube nicht, dass es ihm liegt, Anweisungen zu erteilen.«
Estrada lächelte. »Ich bin froh, dass wir darüber gesprochen haben. Schade, dass ich nicht schon früher ehrlich zu dir sein konnte. Jetzt verstehst du sicher, warum du mich nach Altapasaeda begleiten musst.«
»Ja.«
Was nicht bedeutete, dass ich sie dorthin begleiten würde. Aus ihrem verrückten Plan herauszukommen, war eine andere Angelegenheit, die mindestens bis zum nächsten Morgen warten konnte.
»Wir sollten versuchen, ein wenig zu schlafen. Ein langer Tag erwartet uns.«
»Ja.« Estrada legte sich neben dem Feuer auf den Boden, mit dem Rücken zum Baumstamm. »Gute Nacht, Damasco.«
Rufe weckten mich. Mein erster Gedanke war, dass ich mich geirrt hatte, dass Moaradrids Männer das Feuer gesehen hatten – jeden Augenblick würden sie über mich herfallen, mich fesseln und irgendwohin bringen, wo mich unbeschreibliche Qualen erwarteten. Ich blinzelte benommen im Licht des Morgens und empfand weniger Furcht als Ärger darüber, mich geirrt zu haben. Als ich mir Estradas hämische Freude vorstellte, schnitt ich eine Grimasse.
Dann fiel mir auf, dass es ihre Rufe waren, die ich hörte, und nur ihre. Entweder gingen die Angreifer erstaunlich leise zu Werke, oder es fand etwas ganz anderes statt. Ich stand auf, rieb mir die Augen und sah mich um. Salzleck hob gerade den Kopf, offenbar ebenfalls von den Rufen geweckt. Durch die Lücken zwischen Blättern und Zweigen sah ich Estrada am Ufer stehen. Sie sprang von einem Fuß auf den anderen und winkte mit den Armen. Wem ihre Signale galten, konnte ich nicht feststellen. Vorausgesetzt, es waren überhaupt Signale. Ich hielt es auch für möglich, dass sie den Verstand verloren hatte.
Wem konnte sie hier mitten im Nirgendwo zuwinken? Bitte nicht Mounteban , dachte ich. Moaradrid wäre mir lieber als der aufgeblasene Mistkerl . Ich stieg über den Baumstamm hinweg, der uns als Sitzgelegenheit gedient hatte, und lief zum Ufer. Estrada stand hinter dem Vorhang aus Weidenzweigen, und deshalb konnte ich den Grund für ihr Winken erst erkennen, als ich direkt hinter ihr stand. Ein Kahn lag am Ufer, so nahe, dass die Besatzung an Land springen konnte, ohne nasse Füße zu bekommen. In einem besonders guten Zustand befand er sich nicht: Der Name war unter all dem Dreck nicht mehr zu lesen, und schmutzige Planen bedeckten die Fracht. Ein fransiges, derzeit zusammengefaltetes Segel hing am Mast. An Deck befanden sich zwei Jungen und ein bärtiger Mann, der einen einst teuren, inzwischen aber längst fadenscheinigen scharlachroten Mantel trug und sich über die Reling zu uns beugte.
Estrada bemerkte mich und sagte: »Damasco, das ist Kapitän Anterio. Ich habe ihn zufällig vorbeifahren sehen und dachte mir, dass er uns vielleicht helfen kann. Kapitän, dies ist mein Reisegefährte Easie Damasco.«
»Es ist mir ein Vergnügen«, sagte ich ohne große Überzeugung.
»Der Kapitän hat sich gerade bereit erklärt, uns mitzunehmen.«
»Vorausgesetzt, wir können uns auf einen angemessenen Preis einigen«, fügte Anterio rasch hinzu. Dann wurden seine Augen groß, und er trat einen Schritt zurück. »Was um alles in der Welt ist das?«
Ich folgte seinem bestürzten Blick und sah Salzleck, der durch den Wald pflügte.
»Ah«, sagte Estrada. »Salzleck wollte ich gerade erwähnen.«
Ich erfuhr nie, wie viel Estrada für die Reise mit dem Lastkahn bezahlte. Zweifellos war es eine beträchtliche Summe, als klar wurde, dass auch Salzleck zu den Passagieren zählte. Zwar erklärte sich Anterio schließlich
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