Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Anblick gerät er förmlich in Ekstase. Sieh da, wie tief doch die Mächtigen gefallen sind, denkt er. Im Grunde muss man gar nichts tun. Nur lange genug warten, bis sie, einer nach dem andern, herunterfallen.
Er wirft einen Blick zu Kirsty Lindsay hinüber und sieht, dass sie ihre Bank verlassen hat. Doch sie verhält sich nicht so, wie er erwartet hätte. Sie rennt nicht hinüber und gesellt sich zu ihren Kollegen. Stattdessen tut sie etwas sehr Seltsames. Sie steigt in das erdige Blumenbeet über den Wurzeln der Buche und zertritt dabei verblühte Glockenblumen. Sie erreicht den Baumstamm und legt die Hände darauf. Tastet sich um ihn herum und versteckt sich dahinter im Schatten einer Hecke. Martin runzelt die Stirn. Was zum Teufel hat sie vor?
Die an der Spitze rennenden Fotografen befinden sich jetzt fast auf gleicher Höhe mit ihm, in ihren Gesichtern leuchtet das Jagdfieber. Es ist wie die Jagd auf einen in die Enge getriebenen Fuchs. Ambers Haar ist zerzaust, die Lippen sind gefletscht– aus Wut? aus Furcht?–, sodass ihr Gebiss bis zu den Backenzähnen sichtbar ist. Kurz empfindet er fast Mitleid mit ihr, doch dann erinnert er sich an die Demütigung, daran, wie kalt sie ihn abgewiesen hat, als er Jackie anrief, an den Schock, als er ihre Verbindung zu Kirsty Lindsay aufdeckte, und das Mitleid verfliegt. Sie kriegt, was sie verdient.
Mit einem Mal bleibt sie unvermittelt stehen und versucht, an die höheren Instinkte ihrer Verfolger zu appellieren. » Bitte!«, schreit sie. » Bitte! Lasst mich in Frieden! Ich weiß nichts! Ich habe nichts zu sagen!«
Für einige Sekunden liegt Stille in der Luft, dann beginnt das Gebell aufs Neue. » Wo wollen Sie hin, Amber?« » Wie haben Sie’s rausgefunden?« » Sagen Sie uns, was Sie empfinden!« » Werden Sie ihm beistehen?«
Amber holt tief Luft und stößt einen Schrei aus. » Lasst mich in Ruhe!«
Schwankend rennt sie los. Wirkt, als hätte sie kaum noch Kraft in den Beinen. Die Jagd geht weiter, vorbei an Martins Versteck, an Kirsty Lindsay, die sich im Schatten verborgen hält, vorbei an Bänken, Abfalleimern und Blumenbeeten. Sie erreicht den Seiteneingang, zwängt sich hindurch und taumelt die Park Road entlang Richtung Ufer. Ich wette, sie läuft zum Funnland, denkt Martin. Da würde ich jedenfalls hin. Immerhin arbeiten dort ein paar Sicherheitskräfte.
Kirsty tritt auf den Weg hinaus und starrt ihren Kollegen, diesen Bluthunden, mit zusammengepressten Lippen und undurchdringlicher Miene kurz hinterher. Dann macht sie auf dem Absatz kehrt und geht mit schnellen Schritten in Richtung Stadtausgang. Sie führt was im Schilde, denkt Martin. Es macht fast den Eindruck, als ob sie versucht, sich von Amber fernzuhalten. Dass sie Angst vor etwas hat.
Er wartet, bis er sicher ist, dass sie sich nicht noch einmal umsieht. Dann kommt er aus seinem Hortensiengebüsch hervor, um ihr zu folgen.
KAPITEL 35
Daheim. An ihrem Zufluchtsort. Wände, die einen umschließen und beschützen. Eine Barriere gegen die Welt, der Ort, nach dem man sich sehnt, wenn ein Sturm aufzieht. Kirsty sitzt, die Sun vor sich ausgebreitet, in ihrem stillen Esszimmer, und Sonnenlicht fällt durch das Fenster zu ihrer Rechten. Sie macht sich Gedanken über Amber. Fragt sich, ob sie ebenfalls zu Hause ist oder in irgendein anonymes Motelzimmer vertrieben wurde, in ein Gästezimmer bei Freunden oder in ein geschütztes Haus.
Die Sun hat Whitmouth zur Titelgeschichte gemacht. Weil der Täter selbst vor Gericht nicht erschienen ist, bringen sie ein riesiges, unscharfes Foto von Amber im Park, die obere Gesichtshälfte von der dunklen Brille verdeckt, der cremefarbene Regenmantel fest zugebunden. Sie hält ein Handy ans Ohr und fletscht die Zähne– bei Primaten seit jeher ein Ausdruck von Angst und Bedrängnis. Doch so interpretiert die Zeitung es nicht, vielmehr entscheidet sie sich bewusst dagegen. Es dürfte zwar auf der ganzen Welt keinen Zeitungsredakteur geben, der naiv genug wäre, den Unterschied nicht zu erkennen. Was jedoch nicht heißt, dass man bei der Wahrheit bleibt, wenn es gilt, den gerechten Zorn der Öffentlichkeit zu entfachen. VÖLLIG UNBEKÜMMERT lautet die Schlagezeile.
Kirsty überfliegt die Unterzeile. » Herzlos: Amber Gordon unternimmt am Handy plaudernd und lachend einen Strandspaziergang und verschwendet keinen Gedanken an den Schmerz der Familien der Opfer.«
Scheiße, denkt sie. Sie haben eine zweite Sonia Suttcliff, die Frau des Yorkshire-Rippers, aus ihr
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