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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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zurückzufinden. Das Leben ging weiter, auch nach Rebecas Verrat, auch ohne Jiacintos Liebe – nur, das wusste sie, während sie durch die Zeitung blätterte, unmöglich in Santiago. In dieser Stadt hatte sie keine Zukunft.
    Sie atmete tief durch, und die Wörter verschwammen vor den Augen, aber an einer Stelle wurden sie klar und ergaben einen Sinn. Wieder atmete sie tief durch. Vielleicht ließ sich auf der Welt doch noch ein Fleckchen Erde finden, auf dem sie stehen konnte, ohne dass es sie zerriss. Sie schlug die Zeitung zu und erkannte erst jetzt, dass es eine der Provinzzeitschriften war, die Valentina oft las, um zu wissen, was sich im Rest des Landes zutrug.
    Als sie Schritte hörte, zuckte sie zusammen und fühlte sich irgendwie ertappt, aber es war nur Pepe. Er setzte sich ihr gegenüber und beobachtete sie seufzend, als sie erneut die Zeitung aufschlug und die Annonce studierte, auf die vorhin ihr Blick gefallen war.
    »Du bist unglücklich«, stellte er fest – mit einer Mischung aus Mitleid, Neugierde und Befremden.
    Sie blickte nicht auf. »Ja«, gab sie knapp zu.
    »Wegen einem Mann.«
    »Auch.«
    Sie hob den Blick, und Pepes Reaktion überraschte sie. Sie hatte die unwillige, leicht schmerzverzerrte Miene erwartet, doch sein Blick war einfach nur nachdenklich und traurig.
    »Das tut mir leid«, murmelte er. »Und dennoch beneide ich dich dafür.«
    »Du beneidest mich? Aber warum nur?«
    Wie konnte sich einer die Schmerzen wünschen, die da in ihrer Brust tobten und nie nachließen? Die aus ihr, der starken, selbstbewussten Frau, einen Schatten gemacht hatten, der das Leben nicht länger anpackte, sondern sich bloß irgendwie von Stunde zu Stunde rettete?
    Pepe zuckte die Schultern. »Nun, ich habe mich oft gefragt, wie es sich wohl anfühlt, zu lieben. Aber ich bin nie einer Frau begegnet, die mein Herz so tief berührt hat, dass es weh tun könnte.«
    Victoria runzelte die Stirn. Pepes Leid schien so lächerlich gering, gemessen an dem ihren. Aber dann sagte sie doch: »Vielleicht hast du zu wenig nach einer solchen Frau gesucht. Du solltest weniger Zeit in der Buchhandlung und mit deiner Mutter verbringen.«
    Er schüttelte den Kopf, und aus dem nachdenklichen Pepe wurde der altvertraute, der selbstgerecht das Leid der Welt trug. »Meine Mutter braucht mich doch!«, rief er mit dem Brustton der Überzeugung. »Nach dem Tod meines Vaters hat sie niemanden mehr. Und sie hat ihn so geliebt.«
    Victoria blickte ihn skeptisch an und dachte an Valentinas einstiges Bekenntnis, dass sie ihren Mann Francisco nie wirklich geliebt hatte und sie die Erinnerung an ihn nur um Pepes willen am Leben hielt. Kurz rang sie damit, ihm die Wahrheit zu sagen, kam dann allerdings zum Schluss, dass er diese Wahrheit vielleicht ohnehin kannte – dass er sie aber zu seinem Zwecke nutzte. Solange er sich seiner Mutter verpflichtet und zugleich als das Opfer ihres starken Willens wähnte, war er nicht gezwungen, hinaus in die Welt zu gehen und dort zu bestehen. Und solange Valentina einen Sohn hatte, den sie – obwohl er erwachsen war – wie ein Kind behandelte, war auch sie nicht gezwungen, hinaus in die Welt zu gehen und dort zu bestehen.
    Victoria seufzte, schloss für einen Moment die Augen, und als sie sie wieder öffnete, fühlte sie sich erstmals nicht gelähmt und tieftraurig, sondern entschlossen.
    »Ich gehe in den Norden«, erklärte sie unwillkürlich.
    Pepe zuckte zusammen. »In den Norden?«, rief er nahezu empört. »Den Norden Chiles, meinst du?«
    Victoria nickte.
    »Gütiger Himmel! Im Norden gibt es nur Wüste … sonst gar nichts!«
    »Ja«, erklärte Victoria, und es war ausgerechnet sein sichtliches Entsetzen, das sie in ihrem jähen Entschluss bekräftigte. »Aber auch in der Wüste leben Menschen – zurzeit sogar sehr viele. Seit Salpeter und Kupfer dort entdeckt wurden und abgebaut werden, sind viele Arbeiter dorthin gezogen. Vor ein paar Jahren lebten nur wenige Tausende Menschen dort – nun eine Viertelmillion.«
    Mit jedem Wort, das sie sprach, fühlte sie sich sicherer. Ein wenig von der alten Victoria kam zum Vorschein, die über die Welt Bescheid wusste und dieses Wissen gerne in Zahlen ausdrückte.
    »Aber was willst du denn dort?«, fragte Pepe.
    »Obwohl so viele Menschen dort leben und arbeiten, gibt es so gut wie keine Ärzte. Die wenigen bleiben an der Küste – im Landesinneren dagegen, wo die großen Minen sind, ist die medizinische Betreuung höchst

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