Im Schatten des Münsters - Buthe, H: Im Schatten des Münsters
Gras über alles, und die Drahtzieher suchten sich neue Werkzeuge.
Ich war zwar spät dran, aber nicht zu spät, um die Stimmung der mehr als hundert Anwesenden im großen Sitzungssaal zu spüren.
Wie schon bei der Wirteversammlung hatten sich ethnische Gruppen gebildet, die mehr oder weniger lautstark diskutierten.
Die einheimischen Geschäftsleute riefen nach mehr Gesetzgebung, die Italiener berieten bereits, wie man sich mit dem neuen Besitzer arrangieren konnte, die Kroaten wollten Widerstand leisten, die Griechen schmunzelten in sich hinein, und die Türken waren überhaupt nicht vertreten.
Es war ein Panoptikum von Klischees, das sich selbst ad absurdum führte.
Nicht einmal meine Kollegen schienen zu wissen, was sie berichten sollten.
»Wie ist die Meinung der Stadtobersten?«, fragte ich einen der Journalisten, die mich gestern so bedrängt hatten.
Er hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Krieg an allen Fronten. Der Bürgermeister lässt die Sachlage erst einmal prüfen. Es wird ein Ausschuss gebildet. Das war’s.«
Ich konnte dem Pater meine zunehmende Bewunderung nicht versagen. Er kannte die Stadt und hatte genau mit ihrer Hilflosigkeit spekuliert. Die erste Runde ging an ihn.
Von den Betroffenen würde sich ihm niemand in den Weg stellen. Außer vielleicht Simonte. Vielleicht, wenn ... ja, wenn was? Er war der Einzige, dessen Rolle in diesem Spiel – und es war ein Spiel, dessen wurde ich mir immer sicherer – noch nicht definiert war.
33
»Amtsgericht, 16.30 Uhr, Raum 101, am dreizehnten«, hatte mich Lutz informiert. »Aber zu niemandem ein Wort. Die Sitzung ist nicht öffentlich.«
Wie jeder Journalist hatte ich an bestimmte Daten schlechte Erinnerungen. Bei mir war es Freitag der Dreizehnte. Und dieser Dreizehnte war ein Freitag.
Die vergangenen Tage hatte ich mich in Ermangelung anderer Möglichkeiten wieder in das Heer der Tagesberichterstatter einreihen müssen. Hatte Leute auf der Straße befragt, was sie von diesem dubiosen Erbe hielten. Sie nach ihren Ängsten und Problemen gefragt, die sich daraus eventuell ergeben könnten, und alles brav, als ginge mich das eigentlich nichts an, an die Redaktion weitergegeben.
So wurde es auch veröffentlicht. Entweder gar nicht oder als Zweizeiler mit dem Hinweis, dass damal was war.
Meine Kollegen von der lokalen Presse waren die Einzigen, die wirklich von meinem Artikel profitierten. Sie verstanden es, das Thema am Leben zu halten, und waren bald zu meinen einzigen Informanten geworden, die dem »Volk aufs Maul schauten«.
Margot hatte sich nicht mehr gemeldet. Das Café war immer noch geschlossen, und Frau Gerster betrachtete mich wieder als normalen Gast, nachdem der Trubel vorbei war und die Zahl der Gäste sich auf das übliche Minimum reduziert hatte.
Eibel hatte auf die Mailbox gesprochen und mir Vorhaltungen über meine mangelhafte Zusammenarbeit gemacht. Dass er Enrico hatte laufen lassen müssen, sei allein meine Schuld, und es würde noch Konsequenzen für mich haben.
Dass 16.30 Uhr ein ungewöhnlicher Termin war, erfuhr ich erst von Pater Lutz, der mich kurz vorher zu einem Gespräch in eine Kneipe um die Ecke beordert hatte.
Ein mir unbekannter Mann winkte mich an seinen Tisch. Ein glattrasierter Mann, die grauen Haare in ein dunkles Braun gefärbt, im grauen Flanellanzug mit Seidenkrawatte lächelte mich verschmitzt an.
»Erkennen Sie mich nicht?«
»Was soll das denn?«, fragte ich ungläubig und machte dabei wohl ein selten dummes Gesicht.
»Sehe ich so schlimm aus?« Er schaute an sich hinab und zog den Krawattenknoten zurecht.
»Nein, nein«, beeilte ich mich zu versichern. »Nur, ich verstehe nicht ...«
» ... was diese Maskerade soll? Es ist keine. Ich werde in der nächsten Stunde ohnehin enttarnt. Als Ordensbruder bin ich hier nur beschränkt geschäftsfähig. Also habe ich meiner christlichen Berufung adieu gesagt und bin ab sofort ein ganz normaler Geschäftsmann.«
»Aha, normaler Geschäftsmann ...«, wiederholte ich. »Wie heißen Sie denn jetzt, und wo ist Lisa?«
Er grinste. »Ich heiße wieder Michael Graf Este.«
Auf Lisa ließ er sich nicht ein.
»Geht das? Ich denke, Ihrem Vater wurde der Titel ...«
» ... aberkannt, meinen Sie? Stimmt. Aber kurz bevor Mussolini 1922 die Macht an sich riss, hatte König Viktor Emanuel den Adligen alle Privilegien zurückgegeben, weil er hoffte, sie damit auf seiner Seite zu haben, um die Faschisten zu stoppen. Wie Sie wissen, ging das schief.
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