Im Sommer der Sturme
verfolgte genau, was auf der anderen Seite der Barriere vor sich ging. So auch nachts, wenn er im Bett lag und auf die Geräusche ihrer abendlichen Toilette lauschte. Wenn sich die Stille der Verzweiflung breitmachte, drehte er sich im Bett auf die andere Seite und starrte auf die Tür, die ihre Schlafzimmer miteinander verband – aber nicht den Mann mit seiner Frau …
Frederic merkte, dass er mit den Zähnen knirschte, weil er dem Groll gegenüber hilflos war, der ihn beherrschte. In den vergangenen sechzig Jahren hatte er nie untätig herumgesessen und sein Leben von der Zeit und den Umständen bestimmen lassen. Ruhelos und fordernd hatte er die Dinge ständig vorangetrieben. Ruhelos und fordernd – und stur. Und genau dieser Wesenszug hatte ihn letztlich in die Hölle geführt, in der er sich nun befand: Er war geistig und physisch nur noch ein halber Mann – eine Entscheidung vor acht Jahren, als er am Tag seines Anfalls die vernichtende Wahrheit erfuhr. Colette … wie sehr er sie liebte.
Über diese Liebe nachzudenken tat ihm nicht gut. Er kämpfte darum, seine Gefühle zu beherrschen. Was seine Frau anging, so hatte er keine Rechte mehr. Aber hatte sie ihm vergeben? Nicht einmal die Erinnerung an seine erste Frau Elizabeth konnte ihn noch trösten, denn sie hatte er genauso enttäuscht.
»Was denkst du nur von mir, Colette?«, murmelte er, während sich sein Herz nach ihrem sanften Verständnis sehnte. Warum kam sie nicht zu ihm, obwohl er sie doch so nötig brauchte? Er kannte die Antwort. Sogar in diesem Moment war Elizabeth auf Colettes Seite.
»Genug«, brummte er und verdrängte mit letzter Kraft diese Gedanken. Da er während der letzten drei Jahre nicht gestorben war, musste er sich jetzt wohl zum Leben zwingen. »Ich habe viel zu lange herumgesessen und viel zu viel aufgegeben.«
Mit größter Anstrengung quälte er sich auf die Füße, wobei seine gekrümmte Gestalt seiner Größe Hohn sprach. Wenigstens hatte ihm der Anfall nicht alle Kraft geraubt. In früheren Tagen war er jedem Mann ein kraftvoller Geg ner gewesen und von Seinesgleichen beneidet worden. Selbst heute staunten noch viele über seine Willenskraft, doch wer ihn von früher kannte, fühlte sich abgestoßen.
Seine linke Seite war noch immer teilweise gelähmt, wobei ihm das Bein größere Schwierigkeiten bereitete als sein Arm. Mit verzerrtem Gesicht stützte er sich auf den schwarzen Stock, ohne den er nicht mehr auskam, und dann hinkte und schleppte er sich bis zur Tür. Wie im mer fiel sein Blick dabei auf den hohen Spiegel, den man auf seinen Befehl hin in der Ecke des Raums aufgestellt hatte. Und wie immer zuckte er vor seinem Abbild zurück. Der Spiegel erfüllte seinen Zweck und mahnte ihn tagtäglich an sein Aussehen und den Grund, warum er in dieser selbst gewählten Einsamkeit verharren musste. Er hätte die verstohlenen Blicke nicht ertragen, auch nicht das Geflüster und die heimlichen Bemerkungen und, was am schlimmsten war, das Mitleid.
Colette ließ ihn nichts von alledem spüren. Sie war der einzige Mensch, der den Blick nicht abwandte und ihm ohne Zögern oder Widerwillen in die Augen sah. Doch in ihrem Blick lag der größte Kummer. Er wusste, dass sie sich Vorwürfe machte und auf seine Vergebung hoffte. Aber er konnte sich nicht überwinden und die Worte aussprechen. Seltsam, wie er jedes Mal darüber nachdachte, bevor er zu ihr ging.
Colette blickte sich in ihrem Salon um und fand alles ihren Wünschen entsprechend hergerichtet. Mit einem Lä cheln, das ihre blauen Augen förmlich zum Leuchten brachte, wandte sie sich an ihre Zofe. »Sehr schön, Gladys. Wirklich einladend. Ich bin sicher, dass Miss Ryan das ebenso empfinden wird. Würden Sie jetzt noch Cookie – ich meine natürlich Fatima – bitten, einige Erfrischungen bereitzustellen?«
»Ja, Ma’am«, erwiderte Gladys und verließ den Raum.
Colette trat unter die Balkontür und ließ sich den Wind über das Gesicht streichen. Wann werde ich jemals vergessen? Das Geräusch beim Öffnen der Tür rief sie in die Gegenwart zurück. »Haben Sie etwas vergessen …«
Die Frage erstarb ihr auf den Lippen, als Frederic he reingehumpelt kam. Es war drei Jahre her, seit er diesen Raum zuletzt betreten hatte. Entsprechend beunruhigt war Colette. In der letzten Zeit waren sie einander immer nur auf neutralem Boden oder im Kinderzimmer begegnet.
»Ich wollte dich nicht stören«, entschuldigte er sich mit undeutlicher Stimme.
»Du störst mich nicht.«
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