Im Sommer der Sturme
erleichtert. »Der Brief ist bereits fertig.«
Colette schien das nicht zu überraschen.
Einige Zeit später rief sie die Mädchen, um mit ihnen zu lesen, und gemeinsam beendeten sie eine Geschichte über Eleonore von Aquitanien. Im zwölften Jahrhundert hatte die französische Herzogin im Alter von achtzehn Jahren zuerst den König von Frankreich geheiratet und in zweiter Ehe dann den König von England. Die Mädchen bestürmten ihre Mutter mit Fragen, weil sie wussten, dass die Familie ihrer Mutter, die Familie Delacroix, ebenfalls aus Poitiers stammte, wo Eleonore aufgewachsen war. Als Colette erwähnte, dass Eleonores Mutter bereits im Alter von siebenundzwanzig Jahren gestorben war, jammerte Jeannette: »Das ist furchtbar traurig, Mama. Du wirst ja auch bald siebenundzwanzig.«
Colette drückte ihre Tochter an sich und versprach ihr, noch ganz lange zu leben. Dann schickte sie die Mädchen zu Charmaine, die eine Liste mit der richtigen Aussprache einzelner Wörter angefertigt hatte. Die Mädchen konnten zwar fließend lesen, aber diese Liste war ihnen neu.
Keine fünf Minuten später beschwerte sich Yvette. »Das stimmt doch nicht!«
Charmaine sah ihr über die Schulter. »Was genau meinst du denn?«
»Diese blöden Wörter«, brummte sie. »Oil, boil, soil, foil …«
»Und was ist damit?«
»Die spricht man alle mit eu aus, also müsste man Duvoisin auch Dü- veu -san aussprechen … und Mademoiselle wie Mad- meu -zel.«
Charmaine lachte in sich hinein. »Sehr gut, Yvette«, lobte sie. »Das zeigt, dass du aufpasst. Duvoisin und auch Mademoiselle werden zwar genauso geschrieben, aber anders ausgesprochen, da diese beiden Wörter aus dem Französischen kommen.«
Colette sah von dem Buch auf, das sie Pierre gerade vorlas. »Mademoiselle Charmaine hat recht, Yvette. Auf Französisch sagt man nicht eu , sondern oa . Es gibt außerdem noch andere französische Wörter in unserer Sprache. Zum Beispiel armoire, reservoir und repertoire . Auch die andere Insel Espoir wird mit oa ausgesprochen.«
»Ich finde das verwirrend«, brummte Yvette.
»Manche Leute sagen, dass Englisch eine besonders schwierige Sprache ist, weil es so viele Ausnahmen gibt.«
»Stimmt das, Mama?«, fragte Jeannette.
»Was, meine Süße?«
»Dass Englisch schwierig ist.«
»Ich denke schon. Als Kind habe ich nur einige Begriffe gelernt, besser kann ich es erst, seit … seit ich hierhergekommen bin.«
»Hat Papa dir Unterricht gegeben?«
Colette wurde einsilbig. »Ein wenig«, flüsterte sie. Als Jeannette weiterbohrte, meinte sie: »Wir sollten für heute Schluss machen. Es ist gleich Mittag.«
Nach dem Essen eilten die Mädchen zum täglichen Unterricht ans Klavier, und wiederum eine Stunde später versammelten sich alle in der ruhigen Abgeschiedenheit von Colettes Salon. Die Aussicht auf Geburtstagsgeschenke war eindeutig verlockender als die Baustelle im Kinder zimmer. Charmaine erbot sich, die Päckchen aus dem Versteck zu holen. Doch am Ende des Korridors lief sie prompt Agatha Ward in die Arme.
»Miss Ryan, hat man Sie engagiert, damit Sie den Flur verschönern, oder sollten Sie nicht vielmehr auf die Kinder aufpassen?«
Die Bösartigkeit dieser Bemerkung machte Charmaine sprachlos. Zum Glück hatte sie außer einem höflichen »Guten Tag« so gut wie keinen Kontakt zu dieser Person. Agatha mied die Kinder, wann immer es möglich war, und man sah sich höchstens bei den Mahlzeiten oder wenn sie zu Colette kam, um diese zu einer Ruhepause zu drängen. Colette blieb stets höflich, doch meistens ignorierte sie Agatha.
»Nun, Miss Ryan?«
»Ich … ich muss etwas erledigen«, stammelte Charmaine. »Für Miss Colette.«
»Etwas erledigen?«, äffte Agatha sie nach. »So so, und wo sind die Kinder?«
»Bei Miss Colette. Im Salon.«
»Aber Miss Colette fühlt sich nicht wohl«, schimpfte Agatha, »und es ist Ihre Aufgabe, sich um die Kinder zu kümmern. Sie ruinieren die Gesundheit ihrer Mutter.«
Da hatte Charmaine genug. »Miss Colette scheint es oft schlechter zu gehen, wenn Ihr Bruder den Nachmittag über bei ihr war, Mrs. Ward. Doch in Gesellschaft ihrer Kinder blüht Miss Colette regelrecht auf.«
Einen kurzen Moment lang riss Agatha die Augen auf, bevor sich ihre Lider zu Schlitzen verengten. Charmaine begriff zu spät, dass sie sich in diesem Augenblick eine Feindin gemacht hatte. »Wollen Sie damit andeuten, dass mein Bruder unfähig ist, Miss Ryan? Hoffen wir nur, dass Sie nie einen Arzt benötigen, solange
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