Im Sommer der Sturme
kleinen Bruder, und alle amüsierten sich über ihr Spiel.
In einem geeigneten Moment zog Charmaine zwei Briefe aus ihrer Schürzentasche, die Yvette und Jeannette an ihren Bruder geschrieben hatten. »Glauben Sie, dass Paul es als Zumutung empfinden würde, seinem Bruder diese Briefe zu überbringen? Er hat erwähnt, dass er in Richmond Station macht.«
»Aber nein«, antwortete Colette in entschiedenem Ton, um Charmaine alle Zweifel zu nehmen. »Bei aller Gegnerschaft sind die beiden doch Brüder und stehen einander auch nahe.«
»Für mich sieht das aber nicht so aus.«
»Sie sind Brüder«, beharrte Colette, »und Brüder streiten hin und wieder. Ich habe das mit Pierre nicht anders gemacht.«
»Mit Pierre?«
Colette lachte. »Mein Bruder hieß ebenfalls Pierre. Er und meine Mutter sind kurz nach der Geburt der Zwillinge gestorben.«
»Oh, das tut mir leid«, hauchte Charmaine.
Colette drängte die schmerzliche Erinnerung zurück. »Er wurde verkrüppelt geboren und konnte nicht laufen. Jetzt hat er seinen Frieden … im Himmel.«
»Und Ihr Vater?«, fragte Charmaine vorsichtig.
»Er starb, als ich noch sehr jung war.« Diesmal antwortete sie ohne Traurigkeit. »Ich erinnere mich kaum an ihn. Meiner Mutter ist es nicht leichtgefallen, uns großzuziehen. Unsere Familie gehörte zum Adel, doch als Folge der französischen Revolution hat mein Vater einen Großteil seines Vermögens verloren. Da ich eine Schule für junge Damen in Paris besuchte, waren die Mittel meiner Mutter fast völlig erschöpft.«
»Warum gingen Sie denn in Paris zur Schule?«
Mit einem Mal wirkte Colette etwas abweisend. »Die Schule lag in der Nähe der Universität und bot Gelegenheit, einen reichen Gentleman kennenzulernen … oder wenigsten den Sohn eines reichen Gentleman. Mein Bruder war ständig krank, und die ärztliche Behandlung kostete ein Vermögen. Ein reicher Ehemann wäre in der Lage, die finanziellen Verpflichtungen meiner Mutter zu er leichtern und vielleicht sogar für meinen Bruder zu sorgen oder seine Heilung zu erwirken. So jedenfalls hat man es mir erklärt.«
»Und deshalb haben Sie Mr. Duvoisin geheiratet?«
Colette wusste, dass diese Frage kommen würde. Sie hatte sie ja förmlich herbeigeredet. »Das war nur einer der Gründe, aber es gab auch andere. Die Situation wurde immer schwieriger.«
»Mr. Duvoisin muss damals sehr gut ausgesehen haben«, meinte Charmaine.
»So wie heute.« Colette lächelte. »Ich war vom ersten Augenblick an fasziniert. Aber er hat mir auch Angst gemacht.«
Die Minuten verstrichen. »Frederic ist ein guter Mann, Charmaine. Er hat seinen Söhnen Tugenden vererbt, für die sie ihm nicht einmal dankbar sind. Und er ist mir ein guter Ehemann. Manchmal wirkt er sehr schroff, und dieser Anfall hat ihn gezeichnet.«
»Das ist mir bewusst.«
»Nach unserer Hochzeit hat Frederic meiner Mutter ermöglicht, ihren Lebensstil wieder aufzunehmen. Außerdem hat er sich rührend um meinen Bruder gekümmert und ihm die beste Pflege und Behandlung angedeihen lassen, die für das Geld der Duvoisins zu haben war. Und natürlich hat er mir meine beiden wunderbaren Töchter geschenkt … und meinen hübschen kleinen Sohn.«
Charmaine seufzte. »Haben Sie Ihren Mann jemals geliebt?« Sie fand es überaus traurig, wie diese Frau sich für das Wohlergehen ihrer Familie geopfert hatte.
»Ich liebe ihn noch immer.« Ihre Stimme versagte. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Nach der Geburt der Mädchen war es für Frederic nicht immer leicht, weil ich keine weiteren Kinder mehr bekommen durfte.«
»Genauso schwierig war es doch auch für Sie«, gab Charmaine zu bedenken.
»Ja und nein«, antwortete sie und wandte sich ab. »Wie ich schon sagte, es wurde immer komplizierter.« Damit war das Thema beendet, und sie schwiegen eine ganze Weile.
Nachdenklich fragte sich Colette, wann Charmaine einmal über ihre Vergangenheit sprechen würde. Sie spürte, dass Charmaine ebenfalls schmerzliche Erinnerungen mit sich herumtrug. Vielleicht nicht heute, aber bald. Ihre Überlegungen wurden abrupt unterbrochen.
»Was für ein Mensch ist John eigentlich?«
Colette überlegte lange, um möglichst unparteiisch zu antworten. »Er ist ein Rätsel – so kann man es wohl am besten ausdrücken.«
»Von der guten oder der schlechten Sorte?«
Colette lächelte. »Das hängt ganz von demjenigen ab, der ihn beschreibt. Einige verabscheuen ihn zutiefst, und andere lieben ihn, bis es wehtut. Bei John gibt es keinen
Weitere Kostenlose Bücher