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Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Meinung über Frauen, die Freundschaften zu Strafgefangenen aufbauten und anschließend versuchten, diese Männer in ihr Leben zu integrieren. Und höchstwahrscheinlich hatte sie ziemlich rasch das System der Beziehung zwischen Nora Franklin und Ryan Lee durchschaut. Nora in ihrer Einsamkeit. Daneben der Mann, der aufgrund der besonderen Umstände seiner Lebenssituation auf sie angewiesen war. DI Morgan ging davon aus, dass Nora für Ryan notfalls lügen würde. Glücklicherweise konnte sie das jedoch nicht beweisen.
    Sie erhob sich, schob ihren Notizblock und ihren Stift in ihre Umhängetasche.
    »Das wäre es für heute, Mr. Lee«, sagte sie. »Sie sind hier in Pembroke Dock jederzeit für uns erreichbar?«
    »Ich habe nicht vor abzuhauen«, erklärte Ryan ironisch.
    Sie ging auf seinen Ton nicht ein. »Wir behalten Sie im Auge, Mr. Lee. Sie wurden verurteilt wegen eines Gewaltdelikts. Am Tag Ihrer Haftentlassung geschieht in Ihrem unmittelbaren persönlichen Umfeld erneut ein abscheuliches Verbrechen. Sie mögen sich für den Moment unangreifbar fühlen, aber ich behalte Sie im Auge. Sie sind auf Bewährung draußen. Ich denke, Ihnen ist klar, wie verdammt schnell Sie wieder im Gefängnis landen können.«
    »Mir ist das klar«, bestätigte Ryan.
    Er sah ihr nach, als sie das Wohnzimmer verließ. Jenseits der Tür wurde sie von den aufgeregten Fragen Noras und Melvin Cox’ empfangen.
    Er hörte nicht hin. Er begriff in diesem Moment, wie schwierig es sein würde, sich die bürgerliche Normalität aufzubauen, die zu finden er sich während seiner Haft so fest vorgenommen hatte.
    Er war den sechsten Tag in Freiheit. Und bereits wieder auf dem Radar der Polizei.
    Erneut fragte er sich, ob ihm das irgendjemand bewusst eingebrockt hatte.

APRIL

1
    Wie gut, dass ich mit Matthew nicht gleich am ersten Abend ins Bett gegangen war. Meine Befürchtung, was seine Schuldgefühle anging, hatte sich bestätigt, sogar ohne dass wir miteinander geschlafen hatten. Schon allein die Tatsache, dass er es sich hätte vorstellen können – und es sich wahrscheinlich ziemlich konkret vorgestellt hatte, was ja für mich irgendwie spürbar gewesen war –, bewirkte, dass er auf Distanz ging. Er traf sich weiterhin mit mir. Wir gingen zusammen essen. Wir unternahmen Ausflüge in die Umgebung. Manchmal gingen wir ins Kino oder Theater, schauten uns eine Ausstellung an. Wir gingen mit Max spazieren. Es war schön, es machte Spaß mit ihm, der Frühling brach mit Macht aus, ich hätte glücklich sein können.
    Aber Matthew blieb auf Abstand. Wenn wir einander begrüßten, küsste er mich weit weniger innig, als Alexia das tat, wenn ich morgens in der Redaktion eintraf. Weder im Kino noch auf den Spaziergängen hielt er meine Hand, ja, er vermied geradezu ängstlich jede Berührung. Er mochte mich, das konnte ich fühlen, aber er würde alles tun, um zu verhindern, dass mehr daraus wurde.
    Unser Hauptgesprächsthema war: Vanessa.
    Ich begriff, dass Matthew in dem ständigen Kreisen um die Frage, was aus ihr geworden war, verschiedene Phasen durchlief, dass sich diese Phasen allerdings in regelmäßigen Abständen wiederholten. Als ich ihn kennenlernte, war er überzeugt gewesen, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Jetzt, im April, begann er davon zu sprechen, dass sie möglicherweise doch auf eigene Faust den Ausstieg aus ihrem gemeinsamen Leben gesucht hatte, was besonders deswegen unlogisch war, weil sich damit das alarmierte Verhalten des Hundes auf dem Rastplatz kaum erklären ließ. Matthew spielte jede Menge Möglichkeiten durch: ein anderer Mann (also genau die Variante, die er zunächst weit von sich gewiesen hatte), eine Psychose, die sich bei ihr entwickelt hatte und die ihm entgangen war, eine furchtbare Diagnose, die sie bei einem Arzt erhalten und die sie zu einer Kurzschlusshandlung getrieben hatte, eine Überreaktion auf den Streit in Verbindung mit der depressiven Stimmung, in die sie das Wochenende mit ihrer dementen Mutter gestürzt hatte. Und, und, und … Manchmal hatte ich den Eindruck, dass ihm nichts zu absurd erschien, aber ich konnte nachvollziehen, dass jemand, der sich seit bald drei Jahren um eine offensichtlich unlösbare Frage drehte, zwischendurch in dem Dickicht, das sich allmählich in seinem Kopf bildete, unterging. Er würde irgendwann auch wieder der rationale Matthew sein. Ich gab mich allerdings keinen Illusionen hin: Auch die völlig verstiegenen Theorien würden ihre Renaissance erleben.

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