Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
beleidigend. Ryan hatte allerdings nie gern andere für sich arbeiten lassen. Sicher, es war natürlich angenehm, jeden Abend die Schuhe von jemandem geputzt zu bekommen, der sonst nichts zu tun hatte und vom Staat ein ordentliches Gehalt dafür bekam. Aber insgesamt erschien es ihm unmännlich, sich wie eine Art Adliger bedienen zu lassen, wo doch sein Vater Detective beim Morddezernat der Polizei von Baltimore gewesen war und er ein staatliches Stipendium gebraucht hatte (dank dem United States Marine Corps), um am Boston College studieren zu können, ohne dass seine Mutter eine Stellung annehmen musste. Lag es daran, dass er aus einfachen Verhältnissen stammte? Wahrscheinlich, dachte Ryan. Denn seine Herkunft erklärte auch, was er jetzt tat. Er saß nämlich mit einem Drink in der Hand in seinem Lehnsessel vor dem Fernseher, als wäre er ausnahmsweise ein ganz normaler Mensch.
Cathy war diejenige in der Familie, deren Leben sich am wenigsten verändert hatte, außer dass sie jeden Morgen in einem VH-60-Blackhawk-Hubschrauber des Marine Corps zur Arbeit geflogen wurde, wogegen jedoch weder die Steuerzahler noch die Medien etwas einzuwenden hatten. Jedenfalls nicht, nachdem SANDBOX, auch unter dem Namen Katie Ryan bekannt, in ihrer Kindertagesstätte fast das Opfer eines terroristischen Anschlags geworden wäre. Die beiden größeren Kinder waren in ihren Zimmern und sahen fern, nur Kyle Daniel, dem Secret Service als SPRITE bekannt, schlief schon in seinem Bettchen. Ach ja, und der andere Doktor in der Familie, Cathy Ryan – Deckname SURGEON –, saß in ihrem Sessel vor dem Fernseher, sah ihre Patientenblätter durch und studierte im Zuge ihrer nie endenden beruflichen Fortbildung medizinische Zeitschriften.
»Wie läuft’s bei der Arbeit, Schatz?«, fragte SWORDSMAN SURGEON.
»Ach, ganz gut, Jack. Bernie Katz ist wieder Großvater geworden. Er ist völlig aus dem Häuschen.«
»Von welchem seiner Kinder?«
»Sein Sohn Mark – er hat vor zwei Jahren geheiratet. Wir waren bei der Hochzeit, weißt du noch?«
»Ist das der Anwalt?« Ryan erinnerte sich an die Trauung. Das war noch in den guten alten Zeiten gewesen, bevor er mit dem Fluch der Präsidentschaft geschlagen worden war.
»Ja. Sein anderer Sohn, David, ist Arzt – oben in Yale, an der Universitätsklinik. Thoraxchirurg.«
»Habe ich den auch kennen gelernt?« Ryan konnte sich nicht erinnern.
»Nein. Er hat an der Westküste studiert, an der UCLA.« Cathy blätterte im New England Journal of Medicine eine Seite weiter und beschloss, sie zur Erinnerung umzuknicken. Es war ein interessanter Artikel über eine neue Entdeckung auf dem Gebiet der Anästhesie, den sie unbedingt lesen wollte. Sie hatte heute beim Mittagessen mit einem der Professoren darüber gesprochen. Cathy hatte sich angewöhnt, mit Kollegen aus den unterschiedlichsten Fachbereichen zu Mittag zu essen, um sich über die neusten medizinischen Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Der nächste große Durchbruch, glaubte sie, würde in der Neurologie erfolgen. Einer ihrer Kollegen an der Hopkins hatte ein Mittel entdeckt, das beschädigte Nervenzellen nachwachsen ließ. Wenn es wirklich klappte, war ihm der Nobelpreis sicher. Es wäre die neunte derartige Auszeichnung, mit der sich die Johns Hopkins University School of Medicine würde schmücken können. Ihre Arbeit mit Lasern hatte ihr einen Lasker Public Service Award eingetragen – die höchste Auszeichnung in der amerikanischen Medizin. Für eine Reise nach Stockholm waren ihre Entdeckungen allerdings nicht bahnbrechend genug gewesen. Aber das störte sie nicht im Geringsten. Dafür war die Ophthalmologie nicht der geeignete medizinische Zweig, auch wenn es durchaus befriedigend war, Leuten ihre Sehkraft wiederzugeben. Vielleicht war das einzig Gute an Jacks Wahl und dem damit für sie einhergehenden Status als First Lady, dass sie berechtigte Aussichten auf die Leitung des Wilmer Institute hatte, wenn Bernie Katz einmal beschließen sollte, seinen Job an den Nagel zu hängen. Sie konnte dann nach wie vor als Ärztin praktizieren – das war etwas, was sie nie würde aufgeben wollen – und gleichzeitig die Forschung in ihrem Fachbereich koordinieren und darüber entscheiden, wer ein Stipendium erhielt und wo die wirklich interessanten Forschungsschwerpunkte lagen. Denn das, fand sie, war etwas, wofür sie wirklich gut geeignet wäre. Vielleicht war es also doch nicht so schlecht, dass Jack Präsident geworden
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