Immer wenn er mich berührte
Heftigkeit, mit der sie reagierte, nötigte dem Arzt ein schwaches Lächeln ab. Er begleitete sie bis zur Tür und sagte dann:
»Wenn Sie mit sich ins reine gekommen sind, dann rufen Sie mich an, ja?«
Wortlos verließ sie die Praxis.
Es gibt kein neues Problem, schwor sie sich. Ich werde Jürgen sagen, daß ich ihn nicht mehr wiedersehen will. Die ganze Geschichte ist nichts weiter als ein Irrtum. Man kann sich nicht in einer Nacht in einen fremden Mann verlieben.
Janine wartete an der Straßenbahnhaltestelle auf die Linie zwölf. Die Sonne schien heute, die letzten Schneehaufen schmolzen zusammen. Eine Frau schob einen Kinderwagen vorbei, ein junger Mann griff einem blutjungen Mädchen zärtlich in die Haare.
Sie wandte sich ab, sah in die andere Richtung. Aber seinen eigenen Bildern kann man nicht entfliehen. Es war ihr, als stünde Jürgen vor ihr. Unentwegt fühlte sie seine dunklen Augen auf sich gerichtet, hörte sie seine Stimme, sah sie sein Lachen, spürte sie die Berührung seiner Hände …
Als die Linie zwölf kam, stieg sie nicht ein. Verzweifelt stürzte sie in die nächste Telefonzelle und ließ sich mit der Chirurgischen Poliklinik verbinden.
»Herrn Doktor Haller, bitte.«
Ich werde mich mit Stephan zum Mittagessen verabreden, dachte sie. Ich werde den ganzen Tag und den ganzen Abend mit ihm verbringen. Es gibt keine freie Minute mehr, Jürgen. Da ist einer, der mich liebhat, der aufpaßt, daß ich keine Dummheiten machen kann …
»Hallo«, sagte sie.
»Herr Doktor Haller ist verreist«, antwortete eine fremde Stimme, »er wird erst in zwei oder drei Tagen zurückerwartet.«
»Seit wann verreist?« fragte sie verstört.
»Seit heute.«
Sekundenlang glaubte sie, in einen Abgrund zu sinken. Ich muß ihn noch erreichen, dachte sie. Bitte, laß mich nicht allein, Stephan, muß ich ihm sagen. Ich habe Angst, hörst du? Angst vor mir, vor dem, was mit mir geschieht.
Janine warf zwei neue Zehnpfennigstücke in den Apparat, wählte die Nummer seiner Wohnung. Aber die Leitung blieb tot. Niemand antwortete.
Als sie gegen Mittag ins Hotel zurückkehrte, reichte ihr der Portier zwei Briefe. »Sind für Sie abgegeben worden«, setzte er hinzu.
Sie ließ sich in der Halle in einen Sessel fallen. Es war nicht schwer zu erraten, von wem die Briefe stammten. Sie riß das weiße Kuvert zuerst auf.
»Liebe Janine«, schrieb Stephan, »ich konnte dich vor meinem Abflug nicht mehr erreichen. Deshalb in Eile diese Zeilen. Ganz überraschend bin ich zu einem Kongreß nach Berlin gerufen worden. Ich bin am Freitag oder Samstag wieder zurück und werde mich dann gleich melden. Ob wir am Wochenende mal ins Gebirge fahren? Überlege es dir …«
Das gelbe Kuvert enthielt nur einen Zettel. Und auf dem standen nur zwei Sätze: »Ich sitze im Café Brasch. Ich warte dort so lange, bis du kommst. Jürgen.«
Eine Weile blieb sie stumm sitzen. Tat so, als zögerte sie, als müßte sie nachdenken, als fiele es ihr schwer, ins Café Brasch zu gehen. Eine Art Rechtfertigung vor sich selbst.
Aber in Wirklichkeit eine Lüge, eine große sogar. Denn als sie aufstand und auf ihr Zimmer ging, geschah es nur, um ein anderes Kleid anzuziehen, um sich die Nase zu pudern und die Lippen nachzuziehen, um ein schwarzes Samtband in ihre Haare zu stecken …
Ja, hübsch wollte sie sein. Hübsch für ihn. Kritisch wie nie zuvor prüfte sie sich im Spiegel. Und nur die uralte Frage beschäftigte sie: Ob er mich schön findet?
In München war das Wetter schön gewesen, in Berlin regnete es. Stephan Haller war es ziemlich gleichgültig. Der Kongreß, den er Janine gegenüber für diese Reise vorgeschützt hatte, fand gar nicht statt.
Ich will Ihnen einen Tip geben, hatte der Detektiv Paul Karsch gesagt, den Namen eines Mannes, der Janine kennt. Er heißt Jürgen Siebert und wohnt in Berlin, Atlasstraße 16.
Deshalb war er hier. Deshalb hatte er Rogatzki gebeten, für ihn den Nachtdienst in der Klinik zu übernehmen. Es war sein erster Besuch in Berlin, aber die Stadt interessierte ihn nicht. Ihn interessierte nur Jürgen Siebert.
»Kennen Sie die Atlasstraße?« fragte er den Taxichauffeur vor dem Flughafen.
»Ja, steigen Sie ein. Die Atlasstraße ist in Mariendorf.«
Der Fahrer war einer von der gesprächigen Sorte. »Heute nacht ist wieder eine Blondine umgebracht worden«, erzählte er. »Es heißt, die Polente hat diesmal eine Spur.«
»Hoffentlich ist es die richtige«, antwortete Haller, nur um etwas zu sagen.
»Der
Weitere Kostenlose Bücher