Immer wenn er mich berührte
sie nicht mehr, daß er vor ein paar Stunden eine andere geküßt hatte. Nicht mal das fremde Parfüm, das noch an ihm hing, störte sie.
Denn es tröstete sie die Gewißheit, daß er ihr verfallen war. Sie gab sich ihm hin, mit dem rasenden Gefühl, alle besiegt zu haben, die Blonden und die Rothaarigen, die Toten und die Lebenden.
Das dämmernde Licht des Tages fiel herein. Sie zog die Vorhänge nicht zu. Sie liebte nackte Körper, ihren eigenen und den ihres Geliebten …
»Deine Frau hat sich also zum zweitenmal in dich verliebt?« nahm sie plötzlich das Gespräch wieder auf.
Jürgen nickte.
»Es steckt sogar eine gewisse Logik dahinter«, sagte sie nachdenklich. »Bei Bewußtsein hat sie dich nicht erkannt, aber tausend Kleinigkeiten haben sie unbewußt doch erinnert …«
»Weißt du, Liebling, für mich ist es ein Gang durch die Hölle. Immer die Angst, daß uns jemand sehen könnte, der uns von früher her kennt, immer die Ungewißheit, ob sie sich nicht doch plötzlich erinnert …«
Gaby beugte sich über ihn. »Und am Bahndamm, da hattest du Mitleid mit ihr, nicht wahr?«
Jürgen streichelte ihre Schultern. Er hatte die zärtlichsten Hände der Welt, sensible, elektrisierende Hände, und auf seiner Stirn standen jetzt die Schweißtropfen.
»Nein«, stöhnte er, »nicht Mitleid, aber es ist ein Unterschied, jemand den Tod zu wünschen oder es selbst tun zu müssen.«
Ein Telefon läutete im Haus. Schritte. Die sonore Stimme des Butlers. Dann war es wieder still.
Gaby preßte ihr Gesicht an das seine. »Wir werden es zusammen versuchen«, sagte sie leise. »Zu zweit wird es viel leichter sein.«
Und sie dachte dabei: Eine Tote verschwinden lassen, nun, das kann doch kein Problem sein.
Dr. Stephan Haller brauchte einige Zeit, bis er auf dem Heidefriedhof in Mariendorf das Grab fand, das er suchte. Die Inschrift auf dem Marmorblock löste die widerstrebendsten Gefühle in seinem Innern aus.
Geliebt und unvergessen
Janine Siebert
War das wirklich die richtige Spur? Es sprach vieles dafür. Gestern abend hatte der Portier beim Anblick der Fotografie sofort gesagt: »Ja, die kenne ich. Das ist die verstorbene Frau Siebert.« Nach einer schlecht verbrachten Nacht in einem kleinen Hotel war er heute früh wieder losgezogen.
In drei Läden, wo er sich ausrechnete, daß Janine eingekauft haben mußte, zeigte er seinen Schnappschuß her. Und dreimal bekam er spontan die gleiche Antwort.
Die verstorbene Frau Siebert.
Von dieser Minute an begann er sich brennend für die Tote zu interessieren. Er stellte fest, daß sie mit Vornamen Janine hieß, siebenundzwanzig Jahre alt war, fünf Jahre verheiratet, kinderlose Ehe, Mädchenname Rostelle , geboren in Straßburg, die Eltern verstorben, sie sprach als gebürtige Elsässerin Deutsch so gut wie Französisch, sie war blond, blauäugig, zierlich …
Das paßt alles, dachte er. Und wenn ihm der Standesbeamte nicht den Totenschein gezeigt hätte, dann hätte er nicht den geringsten Zweifel gehabt. Aber der Tod dieser Janine Siebert war amtlich beglaubigt. Die Kollegen vom Gerichtsmedizinischen Institut hatten ihm die Sektionsbefunde gezeigt. Die Leiche war auch blond gewesen, auch blauäugig, auch zierlich, und der eigene Ehemann hatte sie identifiziert.
Haller blickte auf die feuchte Erde, auf einen großen Strauß verwelkter Nelken. Als die Beerdigung hier stattfand, lag Janine in der Rifklinik in Casablanca.
Gab es zwischen diesen beiden Polen wirklich eine Brücke?
Nachdenklich verließ er den Friedhof. Als er zehn Minuten später in die Atlasstraße einbog, bemerkte er sofort, daß am Haus Nummer sechzehn die Rollos hochgezogen waren.
Ohne zu zögern, drückte Haller auf den Klingelknopf.
Eine weißhaarige Frau öffnete.
»Ich möchte zu Frau Siebert«, sagte er, einer schnellen Eingebung folgend.
»Die gibt es nicht mehr«, antwortete die Weißhaarige, »die liegt schon über drei Monate auf dem Friedhof.«
Dr. Haller mimte Entsetzen. »Was sagen Sie da? Janine ist tot?«
»Wer sind Sie?« forschte die Frau.
»Mein Name ist Haller. Doktor Stephan Haller. Janine und ich haben als Kinder zusammen gespielt.«
»Kommen Sie herein, Herr Doktor. Ich bin zwar hier nur die Putzfrau, aber eine Tasse Kaffee können Sie von mir auch bekommen.«
So gelangte er ins Haus und kam mit Frau Ulisch, die hier zweimal wöchentlich nach dem Rechten sah, ins Gespräch.
In Ruhe konnte er sich im Haus umsehen. Ein offener Kamin, hübsche Möbel, viele Bilder,
Weitere Kostenlose Bücher