In den Fängen der Macht
entgegenbrachte. Wenn er innerlich beunruhigt war, dann hatte er sich in einen Kokon der Einsamkeit eingesponnen, den nichts durchbrechen konnte. Was immer er für das Mädchen empfand, dem Anliegen der Union, seiner Würde und der stoischen Unschuld, die er der Welt präsentierte, widmete er jedenfalls mehr Gedanken. Wenn er überhaupt eine menschliche Schwäche hatte, dann sollte niemand sie zu sehen bekommen.
Ein Militärexperte wurde aufgerufen, der aussagte, dass diese spezielle Methode, Arme und Beine über einen Pfosten zu binden, als Maßnahme bekannt war, die von der Armee der Union praktiziert wurde und zur Züchtigung ihrer Mitglieder eingesetzt wurde, die sich irgendwelcher Straftaten schuldig gemacht hatten. Das »V« stünde entsprechend für »Verbrecher«. Die Maßnahme gipfelte nicht in der Exekution, sondern dauerte für gewöhnlich zwischen sechs bis zwölf Stunden, wonach der Betroffene kaum mehr fähig war, sich auf den Beinen zu halten. Zu den Schüssen konnte er keine Aussage machen, doch sein Zorn, dass eine akzeptierte Form der Disziplinierung derartig missbraucht wurde, war unübersehbar. Dies hielt er für eine Beleidigung des Mannes, der sie ersonnen hatte.
Ob das Gericht mit ihm einer Meinung war, war unmöglich zu beurteilen, es war jedenfalls von der Grausamkeit der Strafe überwältigt, und in England befand man sich schließlich nicht im Kriegszustand. Die Bedürfnisse der Armee der Union, überhaupt jeder Armee, waren hier unbekannt. Doch die Tatsache, dass diese Strafmaßnahme spezifisch für die Armee war, in der Breeland kämpfte, war ein zusätzlicher Anklagepunkt. Der Hass auf ihn füllte die Luft wie ein heißer beißender Geruch.
Rathbones Gedanken rasten, wie er diesen emotionsgeladenen Bericht entkräften konnte. Bloße Fakten würden in den Gefühlswallungen ertrinken.
Die letzte Zeugin des Tages war Dorothea Parfitt, die siebzehnjährige Freundin, der Merrit die Uhr gezeigt hatte und vor der sie mit ihrer Liebesgeschichte ein wenig geprahlt hatte. Dorothea ging über die freie Fläche und stolperte leicht, als sie die Stufen zum Zeugenstand emporstieg. Sie hatte sich bereits an der Brüstung festgehalten, so dass es kaum auffiel, aber sie stieß ein leichtes Keuchen aus und richtete sich dann errötend wieder auf.
Deverill ging außerordentlich sacht mit ihr um und tat alles, um ihr das Wissen zu erleichtern, dass sie mit ihren Worten ihre Freundin verurteilen, ja vielleicht sogar an den Galgen bringen konnte. Welche Motive sie gehabt hatte, dies der Polizei überhaupt mitzuteilen, konnte niemand ahnen. Vielleicht war es Neid gewesen, dass Merrit die Liebe eines höchst romantischen Mannes gewonnen hatte, der älter, tapferer, geheimnisvoller und weit aufregender war als die jungen Männer, die sie selbst kannte. Die schrecklichen Konsequenzen ihrer Aussage bei der Polizei hatte sie nicht vorhersehen können. Sicher hatte sie sich auch nicht vorgestellt, nun hier stehen und ihre Worte wiederholen zu müssen, denn jetzt konnte sie diese nicht mehr zurücknehmen. Stattdessen gab sie Deverill die Macht in die Hand, den Strick um Merrits Nacken zu legen.
Sie sah Deverill an wie ein Kaninchen die Schlange. Nicht ein Mal ließ sie ihre Blicke zu Merrit auf der Anklagebank hinüberschweifen.
Die Uhr wurde ihr hinaufgereicht, aber sie weigerte sich, sie zu berühren.
»Haben Sie diese Uhr schon einmal gesehen, Miss Parfitt?«, fragte Deverill sanft.
Zunächst war ihre Kehle wie zugeschnürt und ihre Lippen waren so trocken, dass sie keinen Ton hervorbrachte.
Deverill wartete.
»Ja«, hauchte sie schließlich.
»Können Sie uns erzählen, wo und unter welchen Umständen das war?«
Sie schluckte krampfhaft.
»Wir wissen alle, dass Sie sich sehnlichst wünschen, nicht aussagen zu müssen«, sagte Deverill mit einem charmanten Lächeln.
»Aber die Wahrheit muss uns mehr wert sein als das Bestreben, einer Freundin Schwierigkeiten zu ersparen. Erzählen Sie mir einfach, was geschah, was Sie sahen und hörten. Sie sind nicht für die Handlungen anderer verantwortlich, nur ein ungerechter, schuldiger Mensch würde dies behaupten. Wo sahen Sie diese Uhr, Miss Parfitt, und in wessen Besitz befand sie sich?«
»In Merrits«, antwortete sie mit einer Stimme, die kaum lauter war als ein Flüstern.
»Hat sie Ihnen die Uhr gezeigt?«
»Ja.«
»Weshalb? Sagte sie das?«
Dorothea nickte. Deverills Augen ließen sie nicht einen Moment los, so als würde er sie
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