In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
Wundenleckens. Der Siebenjährige Krieg war vorbei und der Alte Fritz predigte die Religionsfreiheit. Ich hatte die Schlachten bei Torgau und Prag natürlich nicht miterlebt, da ich zu jung war. Aber ich erinnere mich genau, wie ich Mühe hatte, meine neue Uniform sauber zu halten...
Björn Randow: In welchem Jahr sind Sie dann geboren?
Athos: 1749. Ich nehme an, Sie testen, wie gut ich mir meine Geschichte vorbereitet habe. Wissen Sie eigentlich, wer noch 1749 geboren wurde?
Björn Randow: Ich habe keine Ahnung...
Athos: Goethe.
Björn Randow: [Gelächter] Sie behaupten so alt zu sein, wie Goethe?
Athos: Nein, ich bin einige Monate älter.
Björn Randow: Wurden Sie in die Armee eingezogen?
Athos: Nein, die Wehrpflicht kam nach Preußen erst zwanzig Jahre später. Ich meldete mich freiwillig... Das war damals nicht ungewöhnlich. Auch Descartes hatte sich freiwillig zur Armee gemeldet. Lange vor meiner Zeit natürlich. Ich weiß nicht, was seine Motive waren, doch ich war einfach nur jung und arm. Manches ändert sich eben nie. Die Uniformen waren bunt und sexy. Man bekam Sold und man bekam Frauen. So stellte ich es mir wenigstens vor. In meiner sehr kurzen Karriere als Soldat erhielt ich dann aber weder viel Sold, noch bekam ich irgendwelche Frauen. Und meine Uniform kriegte ihres ab, als ich den Mann aus der Spree fischte. Ein schlicht gekleideter Kerl, schon etwas älter. Er hustete vor sich hin und sein Gesicht war ganz blau. Ich zog ihn auf die Steintreppe, die in die Uferböschung eingeschlagen war und dachte eigentlich, daß wir beide sicherlich erfrieren. Doch dann raffte ich mich auf und schleppte ihn zur Straße, um dort eine Kutsche anzuhalten. Ich brachte den halbtoten Mann zu meiner Tante und ärgerte mich insgeheim, daß dieser Spinner meinen einzigen freien Tag ruinierte. Doch alles sollte anders werden. Er sprach fließend, ja beinahe akzentfrei deutsch, doch es stellte sich heraus, daß er wohl Franzose war. Sein Bein war gebrochen und wäre nicht der Cousin meiner Tante Arzt gewesen, wäre vieles vielleicht anders verlaufen. So haben wir ihn bei uns behalten und gepflegt...
Björn Randow: Einfach so?
Athos: Einfach so?
Björn Randow: Er war ein Unbekannter...
Athos: Sie haben recht, er war ein Unbekannter. Aber der Unterschied zwischen den alten Zeiten und dem Heute besteht nicht darin, daß wir nun Telegraphen und Audiokassetten besitzen oder zum Mond fliegen. In Wirklichkeit hätte man damals fast jedem in zehn Minuten erklären können, wie ein Plattenspieler oder ein Aufnahmegerät funktioniert. Die Leute meiner Ära waren nicht immer gebildet, doch sie waren unter keinen Umständen dümmer als ihr heute. Ich würde sagen, es war in vielen Belangen genau umgekehrt. Damals bemühte sich der Mensch um Eloquenz und Metaphern. Es war die Zeit der Dichter, vergessen Sie das nicht. Verglichen mit damals, erscheint es mir heute, als würde ich mich unentwegt mit Halbaffen unterhalten. Doch eins macht den wahren Unterschied aus. Man versteckte nicht seine Ignoranz hinter dem ominösen Begriff einer Privatsphäre. Damals warf man nicht einen Menschen, dem man gerade erst das Leben gerettet hat, zurück auf die Straße. Das hätte im Widerspruch gestanden zu all den Geschichten, die man sich abends am Tisch erzählte. Eine solche Kälte hätte in den meisten Haushalten als unsittlich gegolten.
Björn Randow: Wie kam der Mann ins Wasser?
Athos: Man hatte ihn verfolgt und er hatte sich zwischen den Pfeilern einer Holzbrücke versteckt. Doch dann rutschte er aus und brach sich das Bein. Das Wasser trieb ihn einige Minuten mit. Er stellte sich mir als der Freiherr Reinhard Gemmingen-Guttenberg und Graf Tsarogy vor, was mich sogleich an reiche Verwandten des Unbekannten denken ließ.
Björn Randow: Sie dachten, er könnte Ihnen zu einem Vermögen verhelfen?
Athos: Nicht einem Vermögen, aber vielleicht etwas Bares. Die Gier nach Geld, gleichermaßen motiviert durch Reichtum und Armut, ist damals und heute unverändert geblieben. Es gab nur mehr Hunger in Europa. Doch der Edelmann hatte keine Verwandten, die man hätte benachrichtigen können und wohl auch keinen Reichtum. Wie es sich herausstellte, war der Graf selbst ziemlich pleite. Im Bezug auf seine Widersacher war er zwar nicht sehr mitteilsam, doch bevor er eines Tages wieder spurlos verschwand, überreichte er mir etwas, das er als das Geheimnis seines Lebens bezeichnete. Es war eine kleine Schachtel, quadratischer Form,
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