In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
jeden Plattenladen-Besitzer in der Stadt beim Vornamen nannte, setzte für mich neue Maßstäbe.
Sie begann zu tanzen in dieser typischen Mischung aus Hip Hop, Disco und Modern Dance — ich war völlig außerstande, die Stile richtig zuzuordnen. Ihre Art zu tanzen war durchaus erotisch, aber es war kein Gogo-Dance und eignete sich schon gar nicht für die verchromte Stange einer Hurenbar. Das hier war die androgyne Groove-Zone an der Schwelle des Millenniums. Sie war keine Sklavin von Stilettoabsätzen, die sie zwangen ihre Hüften nach vorn zu drücken und ihre Bewegungen einzugrenzen, damit nur jene Drehungen und Gesten erlaubt waren, die dem trivialen Blick des Mannes genügten. Sie trug beim Tanz nie Absätze, schon eher mal schwere Stiefel mit glänzenden Metallkappen und dicken Sohlen. Ihr Tanzen war nicht »fuck me«, es war eindeutig »fuck you«.
Sie trainierte jeden Tag. Inzwischen kam sie vor der dritten Musiknummer gar nicht erst ins Schwitzen. Sie wollte eines Tages davon leben. Und das war eine mutige Idee.
Ich kratzte mich im Schritt und sah ihr, an meiner Kaffeetasse nippend, zu. Evelyn war keine Schönheit, wenn man abgehetzte Mähren wie Heidi und Claudia als Maßstab nimmt. Sie war gerade mal hundertsechsundfünfzig Zentimeter hoch und jeder einzelne Zentimeter unterstrich ihre knabenhafte Gestalt. Ihre Beine und Arme waren drahtig und kräftig. Ungeeignet für das zierliche Schuhwerk und die Reizwäsche von Sexobjekten. Evelyne hatte das Zeug zur Ikone. Wie Cosey Fanni Tutti, Anne Clark oder Nico. Für manche war Evelyn in der Tat bereits eine Legende. Wenn sie beim Tanzen die Augen schloss, tat ich es auch, denn nur dann konnte ich ihr folgen. Wir alle verdienten es im Grunde zu sterben, denn wir betrogen unsere Umwelt und logen unsere Freunde an. Wir heuchelten uns durchs Leben, fraßen Fleisch, trieben Sex mit unseren Handys und vergeudeten alle unsere Gaben, die uns irrtümlicherweise geschenkt worden waren. Doch Evelyn atmete die Zeit ein, als wäre die bloße Existenz eine Liebeserklärung. Sie brach Tabus. Sie war ein kleines und schüchternes Mädchen, das vergessen hatte, lügen zu lernen, und das sich stets aus dem Staub machte, wenn auf einer Party die Menschen mit ihr reden wollten. In den finstersten Subkulturen der Stadt wirkte sie hilfsbedürftig, und doch gab es niemanden, der ihr helfen konnte, denn sie war uns stets einen Schritt voraus.
Während sie tanzte, kam ich mir vor wie ein wuchtiges Konsummonster im fettigen Unterhemd, das den ganzen Tag vor dem Fernseher Tüten mit Kartoffelchips aufreißt. Aber das musste ich sein. Das war meine Rolle. Nur so konnte sich mir ein Wesen, das mir so sehr überlegen war, unterwerfen. Ich konnte sie niemals beherrschen, dafür war sie zu unbeugsam. Ich konnte sie nur quälen. Willkommen in unserer kleinen Beziehung.
Aber auch wenn wir es gewollt hätten: Wir hätten es ohnehin nicht geschafft, alltäglich zu sein.
Und dennoch... Alltäglich...
Ich erstarrte ein wenig. Evelyns tanzende Gestalt verschwamm vor meinen Augen. Alltäglich... Ein seltsames Gefühl.
Vorbei an der donnernden Musik hörte ich das kurze, metallische Geräusch der Postklappe. Ich blickte zur Wohnungstür und sah einen Brief und einige Werbeblätter durch den Schlitz auftauchen und zu Boden fallen. Ich stand auf und hob das Kuvert auf. Es war lediglich eine Mitteilung der Stadtwerke, dass in einigen Tagen jemand vorbeikäme, um die Zähler auf den Heizungen und an den Wasserhähnen abzulesen.
Das war es, das sich so anders anfühlt. Das meinte ich mit Alltag. Die Morgenküsse meiner Konkubine. Der Milchkaffee. Ich hatte seit einigen Tagen immer wieder vergessen, dass ich umhüllt von Geheimnissen lebte. Doch die Rätsel zu ignorieren war absurd. Das hier war noch immer die Wohnung von Dr. Mårtensson und ich hatte keine Ahnung, wer Dr. Mårtensson war. Ob er existierte.
Wer hier eigentlich die Miete bezahlte oder die Stromrechnungen oder das Telefon. Ich bekam hier niemals Post von irgendeinem Amt oder Vermieter. Nur zweimal im Jahr kam jemand von den Stadtwerken vorbei, um die Zähler an den Heizungen abzulesen und mich einen Wisch unterschreiben zu lassen. Dass ich nicht Mårtensson war, interessierte niemanden.
Evelyn hatte ich erzählt, ich sei bei dem alten Mann in Untermiete, während dieser wieder in Schweden war und sich dort in einer Spezialklinik in Göteborg behandeln ließ. Es sei aber unwahrscheinlich, dass der alte Professor noch eine weitere
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