In der Box: Wie CrossFit® das Training revolutionierte und mir einen völlig neuen Körper verlieh (German Edition)
mit einem Fitnesstraining beginnt, ist in diesem Zusammenhang wertlos. Kein Arzt kann seinem Patienten mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob Training ihm schaden könnte oder nicht. Selbst die Definition von Training ist schon eine sehr schwammige Angelegenheit : Gilt drei Mal in der Woche zügiges Gehen schon als Training? Einkäufe nach Hause tragen? Aus Angst vor den nicht absehbaren Konsequenzen gehen viele Ärzte lieber auf Nummer sicher und empfehlen Übergewichtigen die langweiligsten, anspruchslosesten Formen körperlicher Aktivität. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht weiter verwunderlich, dass hochintensives Training von vielen als ›gefährlich‹ gebrandmarkt wird.
Zum Teil ergibt das auch Sinn, denn hochintensives Training wie CrossFit fordert das Herz, die Atemwege, die Beweglichkeit und Gelenke eines Klienten weit mehr als beispielsweise Gehen. Die Frage, ob ein Sport wie CrossFit für fettleibige Personen geeignet ist oder nicht, kann daher nicht generell beantwortet werden.
Ich hatte keine Bedenken, Irene aufzunehmen, denn trotz ihres extremen Übergewichts war sie noch verhältnismäßig jung, Mitte 30. Infolge ihres Gewichts litt sie zwar an einer Vorstufe von Diabetes, wies aber keine weiteren Risikofaktoren für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung auf. Also nahmen wir sie auf und führten sie langsam an das Training heran. Falls es Anzeichen dafür gegeben hätte, dass ihr Körper nicht mit dem zurechtkam, was wir ihr zumuteten, hätten wir sofort die Reißleine gezogen. Hätte ich von ihr verlangen können, sich vorher einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen? Klar, aber meiner Einschätzung zufolge war das Risiko relativ gering und ich wollte sie nicht zurückschicken – weil sie dann mit größter Wahrscheinlichkeit entmutigt gewesen und nie mehr wiedergekommen wäre, was ihr auf lange Sicht noch mehr geschadet hätte.«
Schon in den ersten Monaten stellte sich heraus, dass Irene ein Ausnahmefall war. Sie ging mit derselben Einstellung an ihr CrossFit-Training heran, mit der sie auch sechs Jahre lang ein Arbeitspensum von 70 Stunden in der Woche bewältigt hatte. »Erstaunlicherweise stellte sich heraus, dass ihr Herz und ihre Lunge den Herausforderungen sehr wohl gewachsen waren«, sagte Chang. »Nach einigen Wochen übertraf sie sogar regelmäßig andere Studiomitglieder und schaffte die Workouts schneller oder öfter. Wenn man bedenkt, welche Masse Irene dabei bewegen und mit Blut versorgen musste, ist das eine beachtliche Leistung. Sie stemmte nicht nur oft dieselben Hantelgewichte wie die anderen, sondern trug zusätzlich mehr als 50 kg Übergewicht mit sich herum. Ihr Herz und ihre Lunge funktionierten einwandfrei.«
Chang fragte sich allerdings, ob es Irene gelingen würde, ihre Motivation über einen so langen Zeitraum hinweg aufrechtzuerhalten. Denn es würde eine beträchtliche Zeit dauern, um von fast 200 kg auf ein normales, gesundes Gewicht zu kommen. Seine Frau, Dr. Alessandra Wall, ist ausgebildete Psychologin und auf Patienten mit Essstörungen spezialisiert. In den frühen Diskussionen, in denen die Trainer Irenes Fall besprachen, wies Wall darauf hin, wie wichtig es sei, konkrete Ziele zu formulieren.
»Ich wollte sichergehen, dass sie mit Irene über ihre Ziele sprachen und ihr klarmachten, dass sie realistisch bleiben musste, was die Dauer betraf, in der sie erreichbar waren«, sagte Wall. »Sie würde mit Sicherheit Stagnationen erleben, die ihre Motivation untergruben.«
Chang stimmte zu. »Es ist nie einfach, motiviert zu bleiben«, sagte er, »und das gilt erst recht für krankhaft fettleibige Klienten.« Dabei spielt der Faktor Zeit eine zentrale Rolle : »Weil sie einen weiten Weg vor sich haben, laufen sie leicht Gefahr, die Motivation zu verlieren und aufzugeben. Jemand, der 180 kg wiegt und 45 kg abnimmt, hat schon viel geleistet, doch oft halten sich die Betroffenen trotzdem für Versager, weil sie immer noch übergewichtig sind. Wenn ein Übergewichtiger am Anfang nicht einmal eine Kniebeuge schafft und ihm nach einem Jahr eine passable Überkopfkniebeuge mit einer unbestückten Langhantel gelingt, ist das beachtlich, aber er denkt vielleicht, das sei immer noch höchst unbefriedigend im Vergleich zum Nebenmann, der 70 kg stemmt.«
Auch hier war Irene die Ausnahme von der Regel. Die Tatsache, dass das Elysium eine kleine Box war, erwies sich als Vorteil für sie, weil sie auf diese Weise schnell Freundschaften schloss. Entgegen aller
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