In der Stille der Nacht - Thriller
ehrlich.
Sie holte tief Luft und sah auf die Straße. Vor ihr erstickte die Autobahn am morgendlichen Verkehr. Hinter ihr wurde auch die Strasse am Flussufer entlang immer voller, aber diese Straße hier war breit und leer. Kein guter Parkplatz, das wusste sie. Genau die Art, auf der Wagen gestohlen werden.
Hier war einst der Kai gewesen, wilde Matrosenschenken und Absteigen, riesige Lagerhäuser voller Waren aus aller Welt, die darauf warteten, von langfingrigen Hafenarbeitern verschoben zu werden. Jetzt nicht mehr. Jahrzehntelang hatte es am Flussufer außer leeren Lagerhallen nichts gegeben, bis die Gegend zum Industriegebiet umfunktioniert wurde: Teppichgroßhändler und Möbellager fristeten hier eine Weile ihre klägliche Existenz bis sie vor nicht allzu langer Zeit, dank des Immobilienbooms, von neuen luxuriösen
Uferapartments verdrängt wurden. Zwölf Stockwerke aus Gipskarton mit Schnickschnack, Nasszellen und an der Wand befestigten Espressomaschinen, allesamt mit Terrassen und Blick über den Fluss auf eines der sozial benachteiligtsten Stadtviertel von ganz Schottland. Enthusiastische Hauskäufer hatten über Nacht Zelte aufgeschlagen, um nur ja in den Genuss des Privilegs zu gelangen, in der ersten Phase des Bauprojekts kaufen zu dürfen. Aber der Markt veränderte sich so rasch, dass die Bauherren in der letzten Phase die Wohnungen kaum noch loswurden.
Von Müdigkeit geschwächt stieg Morrow aus dem Wagen, zog den Mantel fester, um sich vor dem kalten Wind zu schützen, der vom Fluss herüberwehte, und öffnete den Kofferraum. Die Präsentationsflasche Single Malt lag seit zwei Wochen dort drin. Sie nahm sie, legte sie sich wie einen Hundewelpen auf den Arm, schloss den Wagen ab und ging zur Haustür. Dannys Summer: 12.1.
»Was?«
»Danny, ich bin’s.«
Sie spürte, dass er zögerte, dann summte und knackte die Haustür, und sie stieß sie auf. Das Klappern ihrer mäßig hohen Absätze hallte auf dem Steinfußboden, als sie zu den stählernen Fahrstuhltüren ging und auf den Knopf drückte. Plastikpflanzen standen auf beiden Seiten des Türrahmens, unglaublich grüne, aber staubige Palmen, Zigarettenstummel lagen verstreut im Kies, in dem sie steckten. Leinwände waren fest an die Wände geschraubt: Schräge Striche in grün und rot.
Der Fahrstuhl hielt vor ihr an, die Tür öffnete sich, zwei Kapuzenträger und eine Geschäftsfrau im Hosenanzug traten heraus, die Typen in den Kapuzenpullis grinsten verschlagen
und die für den Tag frisch frisierte Frau blickte erschrocken.
Morrow ließ sie an sich vorbei, stieg selbst ein und drückte auf den Knopf für den zwölften Stock. Der Knopf leuchtete rosa auf, sie starrte darauf, dachte nach. Der Fahrstuhl führte direkt in die Wohnung und der Knopf für die Penthousesuite funktionierte nur, wenn man einen Schlüssel hatte oder jemand in der Wohnung seinerseits einen Knopf drückte, um Zugang zu gewähren. Sie fragte sich immer, ob Danny sie draußen stehen lassen würde, nicht weil er das schon einmal getan hatte, sondern einfach, weil er es tun konnte. Die Türen schlossen sich, die Metallkiste ruckte ein kleines bisschen nach unten bevor sie sich Richtung Dach in Bewegung setzte. Ihr Magen zog sich zusammen bei dem Gedanken daran, ihn zu sehen.
Sanft kam der Fahrstuhl zum Stillstand und die Tür öffnete sich in grelles Tageslicht. Crystyl stand dort in vollem Make-up und auf zwölf Zentimeter hohen Absätzen, die blonden langen Haare glatt gebürstet, in superengen Jeans und einem rosafarbenen mit Pailletten bestickten T-Shirt, das über den Tennisbällen spannte, die sie sich für teures Geld in die Brust hatte implantieren lassen. Ungehalten wegen des Anblicks, den ihr die schlecht gelaunt starrende Morrow bot, stemmte Crystyl die Hand in die Hüfte und winkte ihr zu, raunte ihr mit der gehauchten Stimme eines Kindes ein Hallo zu.
Morrow trat hinaus auf den Steinfußboden. »Alles klar, Crystyl?«
»Ja, super, und selbst so?«
Obwohl sich Alex Höflichkeiten abrang, wusste sie, dass sich ihr Gesicht vor Unmut verzerrte, wenn sie mit Crystyl
sprach. Dabei ging es gar nicht so sehr gegen Crystyl persönlich, als vielmehr um den Typus Frau, den sie verkörperte: aufgedonnert, oberflächlich, sentimental, aber unter dem ganzen Glitzernagellack war sie eiskalt genug, um auf Kosten eines Mannes zu leben, zu dessen Geschäften es gehörte, anderen die Beine zu brechen. Crystyl gab vor, dies nicht zu wissen, und tat, als mache er seine Geschäfte
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