In einer Familie
be-
dingt. Immer beunruhigender und aufreibender
ward ihr Zustand der nervösen Angst vor der Annä-
herung irgend einer Versuchung. Sie fürchtete, einer
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Gelegenheit eines verführerischen Umgangs nicht
widerstehen zu können, so sehr hatte der aufs neue
entfesselte Streit ihrer Triebe sie des notwendigen Si-
cherheitsgefühles beraubt. Wie die in unserer Natur
begründeten Eigenschaften mit dem zunehmenden
Alter stets bestimmtere Züge anzunehmen und
schärfer hervorzutreten pflegen, so war jetzt die
Scheu Doras vor dem geringsten Verstoß wider die
gesellschaftliche Moral ins krankhafte gewachsen.
Hin- und hergezerrt von ihrer leidenden, unbefrie-
digten Begierde und von der tiefen Angst, die sie sich
selbst einflößte, gelangte sie allmählich zu den selt-
samsten Widersprüchen. Sie vermochte sich den ge-
fährlichen Träumereien nicht zu entziehen, in wel-
chen sie die intimen Seelenschilderungen der von ihr
bevorzugten französischen Romane ausspann, wäh-
rend sie andererseits heftig zusammenschrak, sobald
die geringste Anspielung auf die Dinge, mit denen
sie sich fortwährend innerlich beschäftigte, vor ihr
laut wurde. Es war dies vielleicht die nämliche Re-
gung, die den Verbrecher ergreifen mag, der erfährt,
daß ein anderer bei einer That ergriffen ist, über wel-
che er selbst seit langem brütet. –
Ihr Gatte, der in der ersten Zeit ihrer Ehe noch
einigen Verkehr mit früheren Kameraden und ande-
ren ehemaligen Berliner Bekanntschaften pflegte,
glaubte sie zuweilen durch kleine Mitteilungen aus
der Lästerchronik erheitern zu sollen. Einmal kün-
digte er Dora an, daß ein junger Offizier, mit dem
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er sich befreundet, ihr vorgestellt zu werden
wünschte.
»Es ist ein netter, übrigens sehr verzogener
Junge«, sagte er. »Man nennt ihn hier seit kurzem
mit der kleinen Frau v. Wirtz zusammen, obwohl er
überhaupt erst seit vier Wochen in Dresden ist. Er ist
scharf vorgegangen, wie es scheint.«
»Solche Geschichten finde ich eher traurig als in-
teressant«, fiel Dora ungeduldig ein, »und es liegt
mir nicht daran, sie zu hören. Auch verlangt mich
gar nicht danach, diesen Herrn hier im Hause zu se-
hen.« –
Herr v. Grubeck ließ unter ihrem unmutigen
Blick seinen kurzen Hals ganz zwischen den Schul-
tern verschwinden, und zu der Ratlosigkeit, mit der
er die übertriebene Empfindlichkeit seiner Gattin
ansah, kam in diesem Falle die Verlegenheit, dem
jungen Manne den schon versprochenen Eintritt in
sein Haus nachträglich versagen zu müssen.
Zu gleicher Zeit und unter den nämlichen Um-
ständen entwickelte sich Doras Religiosität, welche,
durch die ertötende Bitterkeit ihrer seelischen Er-
fahrungen allerdings der zarten, tröstlichen Verin-
nerlichung beraubt, Züge des Aberglaubens an-
nahm.
Schließlich trug zu ihrem Bedürfnisse, jede gesell-
schaftliche Bewegung zu vermeiden und ihre Tage
durchaus in häuslicher Ruhe zu verbringen, ein un-
scheinbarer Zug bei, der aber bewies, daß dieser
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Frau, die unaufhörlich mit ihrer tiefsten Natur im
Kampfe lag, darum die oberflächlichsten Wünsche
des weiblichen Herzens nicht fremd waren. Sie
konnte nur durch eine sitzende Lebensweise ein
kleines Gebrechen, das unbedeutende Lahmen ihres
linken Fußes, dem Gatten dauernd verbergen. Viel-
leicht daß sie sich diesen ihren Wunsch mit der Ein-
sicht erklärt hätte, nur dadurch, daß sie ihren Fehler
nicht sichtbar werden ließ, ihre unbeschränkte
Überlegenheit über den Mann bewahren zu können.
Vielleicht auch, daß diese Erklärung nur zur Hälfte
unberechtigt gewesen wäre. Ihr fehlender Teil war
aber in der seltsamen Eitelkeit zu suchen, sich auch
diesem von Anfang an ungeliebten und auf die
Dauer sogar verachteten und gehaßten Manne ge-
genüber nicht die geringste Vernachlässigung ihrer
Haltung zu verzeihen.
Es war dies ein Hervortreten jener auffälligen Er-
scheinung, welche fast an eine seelische Doppelexi-
stenz mancher Frauen glauben machen könnte. Es
ist die Beobachtung, daß auch bei der eigenartig ge-
bildeten, in gewissen Beziehungen von der Allge-
meinheit abgesonderten Frau sich unter bestimmten
Bedingungen ihrer Lage und ihrer Stimmung Züge
der allgemein weiblichen Denk- und Empfindungs-
art zeigen, die ihren alltäglichen seelischen Gewohn-
heiten zu widersprechen scheinen. Unter der ge-
wöhnlich sichtbaren Natur eines vielleicht höchst
originellen Einzelwesens regt sich unter
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