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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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be-
    dingt. Immer beunruhigender und aufreibender
    ward ihr Zustand der nervösen Angst vor der Annä-
    herung irgend einer Versuchung. Sie fürchtete, einer
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    Gelegenheit eines verführerischen Umgangs nicht
    widerstehen zu können, so sehr hatte der aufs neue
    entfesselte Streit ihrer Triebe sie des notwendigen Si-
    cherheitsgefühles beraubt. Wie die in unserer Natur
    begründeten Eigenschaften mit dem zunehmenden
    Alter stets bestimmtere Züge anzunehmen und
    schärfer hervorzutreten pflegen, so war jetzt die
    Scheu Doras vor dem geringsten Verstoß wider die
    gesellschaftliche Moral ins krankhafte gewachsen.
    Hin- und hergezerrt von ihrer leidenden, unbefrie-
    digten Begierde und von der tiefen Angst, die sie sich
    selbst einflößte, gelangte sie allmählich zu den selt-
    samsten Widersprüchen. Sie vermochte sich den ge-
    fährlichen Träumereien nicht zu entziehen, in wel-
    chen sie die intimen Seelenschilderungen der von ihr
    bevorzugten französischen Romane ausspann, wäh-
    rend sie andererseits heftig zusammenschrak, sobald
    die geringste Anspielung auf die Dinge, mit denen
    sie sich fortwährend innerlich beschäftigte, vor ihr
    laut wurde. Es war dies vielleicht die nämliche Re-
    gung, die den Verbrecher ergreifen mag, der erfährt,
    daß ein anderer bei einer That ergriffen ist, über wel-
    che er selbst seit langem brütet. –
    Ihr Gatte, der in der ersten Zeit ihrer Ehe noch
    einigen Verkehr mit früheren Kameraden und ande-
    ren ehemaligen Berliner Bekanntschaften pflegte,
    glaubte sie zuweilen durch kleine Mitteilungen aus
    der Lästerchronik erheitern zu sollen. Einmal kün-
    digte er Dora an, daß ein junger Offizier, mit dem
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    er sich befreundet, ihr vorgestellt zu werden
    wünschte.
    »Es ist ein netter, übrigens sehr verzogener
    Junge«, sagte er. »Man nennt ihn hier seit kurzem
    mit der kleinen Frau v. Wirtz zusammen, obwohl er
    überhaupt erst seit vier Wochen in Dresden ist. Er ist
    scharf vorgegangen, wie es scheint.«
    »Solche Geschichten finde ich eher traurig als in-
    teressant«, fiel Dora ungeduldig ein, »und es liegt
    mir nicht daran, sie zu hören. Auch verlangt mich
    gar nicht danach, diesen Herrn hier im Hause zu se-
    hen.« –
    Herr v. Grubeck ließ unter ihrem unmutigen
    Blick seinen kurzen Hals ganz zwischen den Schul-
    tern verschwinden, und zu der Ratlosigkeit, mit der
    er die übertriebene Empfindlichkeit seiner Gattin
    ansah, kam in diesem Falle die Verlegenheit, dem
    jungen Manne den schon versprochenen Eintritt in
    sein Haus nachträglich versagen zu müssen.
    Zu gleicher Zeit und unter den nämlichen Um-
    ständen entwickelte sich Doras Religiosität, welche,
    durch die ertötende Bitterkeit ihrer seelischen Er-
    fahrungen allerdings der zarten, tröstlichen Verin-
    nerlichung beraubt, Züge des Aberglaubens an-
    nahm.
    Schließlich trug zu ihrem Bedürfnisse, jede gesell-
    schaftliche Bewegung zu vermeiden und ihre Tage
    durchaus in häuslicher Ruhe zu verbringen, ein un-
    scheinbarer Zug bei, der aber bewies, daß dieser
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    Frau, die unaufhörlich mit ihrer tiefsten Natur im
    Kampfe lag, darum die oberflächlichsten Wünsche
    des weiblichen Herzens nicht fremd waren. Sie
    konnte nur durch eine sitzende Lebensweise ein
    kleines Gebrechen, das unbedeutende Lahmen ihres
    linken Fußes, dem Gatten dauernd verbergen. Viel-
    leicht daß sie sich diesen ihren Wunsch mit der Ein-
    sicht erklärt hätte, nur dadurch, daß sie ihren Fehler
    nicht sichtbar werden ließ, ihre unbeschränkte
    Überlegenheit über den Mann bewahren zu können.
    Vielleicht auch, daß diese Erklärung nur zur Hälfte
    unberechtigt gewesen wäre. Ihr fehlender Teil war
    aber in der seltsamen Eitelkeit zu suchen, sich auch
    diesem von Anfang an ungeliebten und auf die
    Dauer sogar verachteten und gehaßten Manne ge-
    genüber nicht die geringste Vernachlässigung ihrer
    Haltung zu verzeihen.
    Es war dies ein Hervortreten jener auffälligen Er-
    scheinung, welche fast an eine seelische Doppelexi-
    stenz mancher Frauen glauben machen könnte. Es
    ist die Beobachtung, daß auch bei der eigenartig ge-
    bildeten, in gewissen Beziehungen von der Allge-
    meinheit abgesonderten Frau sich unter bestimmten
    Bedingungen ihrer Lage und ihrer Stimmung Züge
    der allgemein weiblichen Denk- und Empfindungs-
    art zeigen, die ihren alltäglichen seelischen Gewohn-
    heiten zu widersprechen scheinen. Unter der ge-
    wöhnlich sichtbaren Natur eines vielleicht höchst
    originellen Einzelwesens regt sich unter

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