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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Mann
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sie nur dazu ver-
    mögen, im eigenen Herzen Buße zu thun und ihm
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    seine Schuld tragen zu helfen. Dabei können sie im
    Alltagsleben nüchtern erscheinen, und nichts liegt
    ihnen ferner, als der tägliche Kultus des Gefühls,
    seine Anbetung mit Gesten und Empfindsamkeiten.
    Aber der Glaube an das Gefühl selbst ist in ihnen
    unzerstörbar; er ist der Grund, in den ihr Sein ge-
    senkt ist. Es sind sozusagen protestantische Na-
    turen.
    Dem Manne zu ihren Füßen fehlte die Erklärung.
    Er kniete jetzt noch vor ihr, wie wohl ein Beter vor
    einer Madonna, die ein Wunder gethan. Aber er
    hatte ein Leben vor sich, um sich aufzurichten an der
    Stärke eines Frauenherzens, welches liebt und ver-
    gibt.
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    IX
    Nach der furchtbaren Auseinandersetzung mit ih-
    rem bisherigen Geliebten hatte Doras Zustand an-
    fänglich eine nicht ungefährliche Wendung genom-
    men. Der Angriff auf die Widerstandsfähigkeit ihrer
    Nerven war ein solcher gewesen, daß eine ursprüng-
    lich gesundere, an Ruhe und Ausgeglichenheit ge-
    wöhnte Natur ihm zweifellos unterlegen wäre. Die
    ihre, welche an seelischen Kämpfen und Krisen des
    Temperamentes reich erfahren war, überstand auch
    noch dies. Indes erholte sie sich langsam. Etwa zwei
    Wochen lang kam sie wenig zur Besinnung. Als ihr
    matter Geist sich wieder zu sammeln begann, war es
    mit der gewöhnlichen, tiefen Gleichgültigkeit des
    Rekonvaleszenten für al es andere als für sein anima-
    lisches Befinden. Während sie sich zum erstenmale
    erhob, zauderte sie wohl kurz, das Zimmer zu ver-
    lassen, mehr aus Widerwillen, irgend Jemand außer
    ihrer Pflegerin zu begegnen, als in ausdrücklicher
    Erinnerung an das ihrer Krankheit Voraufgegan-
    gene. Aber sogleich fiel sie von neuem in die natür-
    liche Neigung, Alles gehen zu lassen, zurück.
    Warum irgend etwas bedenken, und auf wen Rück-
    sicht nehmen? Sie hatte erfahren, daß Wel kamp mit
    seiner Gattin wenige Tage nach der Katastrophe ab-
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    gereist sei. Ihres eigenen Gatten gedachte sie kaum,
    er bedeutete in diesem Augenblicke nichts mehr in
    ihrem Leben. So seltsam hatte sich die namenlose
    Angst, die ihr damals Wellkamps Drohung, sie an
    den Mann zu verraten, eingeflößt, jetzt in die äußer-
    ste Fremdheit und Nichtachtung gegenüber der voll-
    endeten Thatsache verwandelt.
    Auch beachtete sie es nicht weiter, als sie sich
    während ihrer Mahlzeit im Speisezimmer allein
    fand. Herr v. Grubeck hatte sich seinerseits ent-
    schuldigen lassen. Er fand es zur Zeit unmöglich,
    Dora zu sehen und mit ihr ohne einen Rückhalt, wie
    er ihn bisher in seiner Tochter gehabt, zusammen zu
    bleiben. Er zögerte noch, als habe er einen Entschluß
    zu fassen, und gestand sich nicht, daß dieser Ent-
    schluß im Stillen bereits feststehe. Seine Schwäche
    hatte denselben für ihn gefaßt. Nachdem der plötz-
    liche Aufschwung seines Willens, der ihm in jener
    bedeutenden Stunde zu Allem Kraft verliehen hätte,
    durch Annas Dazwischenkunft gleichsam unnötig
    gemacht und erfolglos geblieben war, hatte der alte
    Herr sich sofort in um so tieferer Energielosigkeit
    befunden. An eine Scheidung seiner Ehe, die ihm
    während jener Unterredung mit seinem Schwieger-
    sohne als durchaus selbstverständlich vorgestanden,
    wagte er sich nicht mehr zu erinnern, so wohl fühlte
    er, daß er sie für alle Zeit vermieden zu sehen
    wünschte. Es hätte das den Verzicht auf alle Be-
    quemlichkeiten erfordert, die, so unbedeutend sie
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    im einzelnen sein mochten, einem Manne von seiner
    Erziehung und seinen Gewohnheiten wie die Luft
    des Lebens selbst erschienen, und die ihm das Ver-
    mögen seiner Gattin verschaffte. Lieber als die Ent-
    behrung ertrug er auch ferner die täglichen gehei-
    men Demütigungen, welche ihm seine Verhältnisse
    als unvermeidliche Begleitung der Bequemlichkeiten
    auferlegten. Einen Augenblick hatte er sein Haupt
    hoch erhoben aus dem trägen Strom, in dem sein Le-
    ben forttrieb; nun ging es von neuem über ihn hin. Je
    länger er indes unschlüssig blieb, wie er von jetzt an
    seine Stellung aufzufassen, und in welcher Weise er
    Dora zu begegnen habe, desto mehr gefiel er sich in
    seiner Neutralität und wich um so sorgfältiger jedem
    Zusammensein mit seiner Gattin aus. Ein flüchtiger
    Gruß und eine Frage nach ihrem Befinden gelegent-
    lich einer zufälligen Begegnung machten ungefähr
    ihren ganzen Verkehr aus. Im übrigen vermied der
    Major seine Wohnung, die ihm nicht nur durch die
    Schwierigkeiten des

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