In Gottes Namen
erst mal näher kennenlernt.
»Gewinnen Sie eigentlich alle Ihre Fälle?«, will sie wissen. Joel lehnt sich zurück. Ihm gefällt die Frage.
»Klar«, sage ich.
»Oh, wie bescheiden.« Molly lächelt mir zu und lässt ihren Blick auf mir ruhen.
Ich recke zwei Finger in die Luft. »Die zweite Regel bei Rechtsstreitigkeiten lautet: Lass die Finger von aussichtslosen Fällen, prozessiere nur in aussichtsreichen.«
Sie breitet fragend die Hände aus und starrt mich weiterhin an. Als von mir nichts mehr kommt, erwidert sie: »Aber wenn jeder diese Regel beherzigen würde, käme es nie zu irgendeinem Prozess.«
»Doch, denn die erste Regel lautet: Erkenne den Unterschied.« Ich winke der Kellnerin. »Darf ich Sie auf einen Drink einladen, Molly?«
»Ursprünglich wollte ich Sie einladen.«
»Umso besser.«
Joel Lightner wirkt äußerst zufrieden mit dem Verlauf des Gesprächs. Sein gönnerhaftes Getue ärgert mich ein wenig. »Ich habe leider noch das eine oder andere zu erledigen«, sagt er. »Molly, ich muss mich verabschieden. War mir eine Freude, Sie kennenzulernen.«
Molly protestiert nicht, sondern steht auf, damit er aus der Nische rutschen kann. Ich werde wieder ein wenig wacher.
»Sie erinnern sich nicht an mich, oder?«, fragt sie, als sie erneut Platz nimmt.
Nein. Ich überlege kurz, ob ich schwindeln soll, aber damit stellt man sich meist nur selbst ein Bein. Und ich bin zu betrunken, um noch sonderlich einfallsreich zu sein.
»Ist schon okay. Ich war letzte Woche hier. Und Sie waren in Begleitung von jemand, der auf mich wie ein Klient gewirkt hat. Ihr Freund war es jedenfalls nicht. Sie haben an der Bar einen Drink bestellt und einen Witz gemacht. Sie haben mich zum Lachen gebracht. Sie waren sehr nett.«
»Und nüchtern«, sage ich.
»Das ist allerdings richtig, Sie waren nüchtern. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«
»Keine schlechte Idee.« Ich richte mich auf. »Normalerweise hinterlasse ich einen guten ersten Eindruck. Das müssen Sie mir glauben.«
»Auf mich haben Sie einen guten ersten Eindruck gemacht.«
Ach ja, das hat sie schon gesagt. Ich fühle mich nicht so übel wie erwartet, höchstwahrscheinlich wegen des Adrenalins, das jetzt durch meine Blutbahnen pumpt und das Gift darin bekämpft. Trotzdem ist so was nicht mein Ding. Ich habe acht oder zehn Jahre keusch wie ein Priester gelebt, bevor ich Shelly begegnet bin. Frauen in Bars aufzugabeln war mir immer fremd. Und ich habe keine Lust, jetzt damit anzufangen.
»Ich denke, das Beste wäre, wenn ich Sie jetzt in ein Taxi setze, Molly.«
Sie lächelt mich an, ein wenig skeptisch. »Entweder sind Sie ein echter Gentleman – oder nicht interessiert.«
»Weder noch. Aber im nüchternen Zustand bin ich definitiv eher ein Gentleman.«
Tatsächlich aber hat sie zur Hälfte recht. Ich bin nicht interessiert. Mein Herz schlägt für eine, die nichts mehr von mir wissen will, die andere Wege geht.
Sie deutet in Richtung Ausgang. »Ich wohne nur drei Blocks von hier. Bringen Sie mich noch nach Hause?«
Drei Blocks weiter bedeutet, sie lebt in der Nähe von Lilly. Das Sax liegt in der West Side, also wohnt sie vielleicht in einem der kürzlich ausgebauten Lofts. Vielleicht ist sie Künstlerin, Tänzerin oder Musikerin. Tänzerin wäre gut.
Ich mag diesen Teil der Stadt, weil ihn die Reichen und Schönen noch nicht für sich mit Beschlag belegt haben. In der West Side gibt es immer noch Fabriken, und nur einige wenige exzellente Bars mischen sich unter die Industriebetriebe und Lagerhallen. Aber selbst diese zaghaften Ansätze von Modernisierung stoßen auf Widerstand bei den Bürgern. Als vor ein paar Monaten die Straße runter ein Starbucks eröffnete, protestierte das halbe Viertel dagegen – die andere Hälfte orderte Mocca Lattes.
Die Gegend wird allmählich immer weißer und trendiger. Die heranschwappende Welle des Forschritts wird in absehbarer Zeit auch das händeringende Häufchen Widerspenstiger wegschwemmen.
Es hat geregnet, und in den Straßen hängt dieser feuchte Geruch, den ich so liebe. In den Schlaglöchern haben sich kleine Seen gebildet; hier draußen fehlt das Geld für Instandsetzungsarbeiten, und die Stadträte haben keinen Einfluss auf den Bürgermeister.
»Vertreten Sie immer noch Leute in Kriminalprozessen?«, fragt sie.
»Wenn Gelegenheit dazu ist.« Aufregende Kriminalprozesse gehören bei Anwälten meines Schlages zur Ausnahme. Mein Honorar ist astronomisch, und die einzigen Angeklagten, die es
Weitere Kostenlose Bücher