In Nomine Mortis
hätte ER zu Gunsten von Pierre
de Grande-Rue in die Waagschale werfen können? Nichts!
Doch so, Bruder Ranulf, wird
der Vagant gestehen, früher oder später. Mehr noch: Er wird
gestehen und bereuen - und nach seinem Geständnis wird er der
gerechten, doch irdischen Strafe zugeführt. Wie aber wird dann die
Seele dieses Unglückseligen in SEIN Reich eintreten? Er wird kommen
als reuiger Sünder und als jemand, der bereits in unserer Welt Buße
getan hat für seine Untaten. Das mag die Waagschale seiner Sünden
anheben!
Indem wir Pierre de
Grande-Rue also foltern lassen, fügen wir seinem Körper Pein zu
— doch wir retten seine Seele. Mit einigen Stunden der irdischen
Qual öffnen wir ihm den Weg zur ewigen Seligkeit!« Mit diesen
und vielen weiteren, wohlgesetzten Worten linderte der Inquisitor meine
Gewissensnot. Ich dankte ihm und bat ihn noch einmal um Vergebung - welche
er mir auch großmütig aussprach. Und doch plagten mich im
tiefsten Innern meiner Seele Zweifel und Ängste, die ich bis heute
nicht zu benennen vermag. Jedenfalls ergriff mich ein Schauder, als einer
der beiden Folterknechte zu späterer Stunde im Klostergarten an uns
herantrat, sich ehrfürchtig verneigte und nur einen kurzen,
unheilvollen Satz sprach: »Der Vagant ist nun so weit, Ihr Herren.«
*
Ein Würgen überkam
mich, als ich wieder in jenes finstere Verlies trat, das ich einige
Stunden zuvor gleich einem Fliehenden verlassen hatte. Schon auf dem Gang
zur Folterkammer wehte mir ein Odem aus Kot und Schweiß und
verbranntem Fleisch entgegen, der mir schier den Atem nahm. Dann erblickte
ich Pierre de Grande-Rue, der noch immer auf der Streckbank gefesselt lag,
wiewohl die Folterknechte die Bänder gelockert hatten. Die Arme und
Beine des Vaganten waren schrecklich verdreht, seine Hände - ich
wagte nicht, sie mir genau anzusehen - glichen blutroten Klumpen. Blut war
ihm auch aus Mund und Nase getreten und ihm in breiten Strömen bis
auf den Körper geflossen. Der einst mächtige Brustkasten sah
eingefallen aus wie der eines alten Mannes. Sein Blick war verschleiert,
als er mühevoll den Kopf in unsere Richtung wandte.
»Gnade, Ihr Herren«
flehte er. Seine Stimme klang so schwach, dass ich ihn kaum noch verstehen
konnte.
Der Bader Nicolas Garmel
stand an der Streckbank und rieb den Körper des Unholds mit stark
nach Thymian und Wacholder riechenden Tüchern ab, die den Gefangenen
erfrischen sollten. »Willst du nun gestehen?«, fragte Meister
Philippe. Seine Stimme klang streng.
Als der Vagant nickte, gebot
mir der Inquisitor, wieder ans Schreibpult zu treten und mich bereit zu
machen, den Bericht getreulich niederzuschreiben.
Mit brechender Stimme —
oft musste ihn Philippe de Touloubre ermahnen, deutlicher zu reden —
gestand Pierre de Grande-Rue, dass er, erhitzt vom Besuch bei einer Schönfrau,
Heinrich von Lübeck erstochen habe, als er diesen zufällig im
Schatten von Notre-Dame getroffen hatte. Sein Motiv war die Gier nach
Geld, denn bei der käuflichen Frau war er all seine Taler los
geworden und suchte sich nun Ersatz zu verschaffen.
Nach seiner grausigen Tat
beugte er sich über Heinrich von Lübeck und begann, dessen Kutte
zu durchsuchen. Ein Manuskript zog er zuerst hervor, denn es war der größte
Gegenstand, den der Mönch bei sich getragen hatte. Den Geldbeutel
konnte er allerdings nicht mehr an sich nehmen, denn bevor er weitere
Durchsuchungen anstellen konnte, bemerkte er Jacquette und den Domherrn in
einer Nebengasse.
Eilig floh Pierre de
Grande-Rue vom Platz - nicht ohne sich die Gesichter der beiden Zeugen
zuvor einzuprägen und sich vorzunehmen, sie so bald als möglich
zu ermorden, um mögliche Zeugen auszuschließen. Was er denn
auch tat.
Den Text, den er dem toten Mönch
geraubt hatte — und den er nicht zu lesen vermochte —,
versteckte er in einem aufgegebenen, halb verfallenen Haus in der Rue
Portefion, direkt neben dem Temple. Dort fänden wir es, da es bis zur
heutigen Stunde unangetastet geblieben sei, unter der fünften
Bodendiele nach dem Eingang, die er gelockert habe.
Warum Heinrich von Lübeck
in seinen letzten Momenten »Terra perioeci « geschrieben habe —
das konnte oder wollte Pierre de Grande-Rue jedoch auch nach langer Folter
nicht sagen. So schrieb ich denn getreulich alles Wesentliche dieses Geständnisses
nieder und erschauderte, da ich
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