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In Nomine Mortis

In Nomine Mortis

Titel: In Nomine Mortis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cay Rademacher
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Gassen vernehmen kann. Doch dann blickte ich den Bettler genauer an.                  
    Es war ein Mann, noch jung an
     Jahren, auch wenn sein magerer Leib in Lumpen gehüllt war und seine Zähne
     schon ausgefallen waren. Als ich jedoch aufmerksamer hinsah, denn wieder
     schrie der Bettler auf, so Schrecken erregend laut, wie Pierre de
     Grande-Rue auf der Streckbank geklagt hatte, da gewahrte ich unter den
     Wollfetzen, mit denen er seinen schrundigen Leib verhüllte, große
     Geschwüre unter seinen Achseln — so groß waren diese,
     dass er seine Arme nicht an den Körper anlegen konnte. Diese Geschwüre
     nässten und eiterten, auch floss Blut aus ihnen. Schwarze Flecken
     zeichneten die Haut des Bettlers. Dann gewahrte ich, dass sein Atem und
     sein Schweiß faulig stanken, fauliger als ich je eine Leichengrube
     gerochen hatte. Mit einem grässlichen Schrei taumelte der Bettler
     einen oder zwei kraftlose Schritte vorwärts, weg vom Brunnen, mitten
     auf den Platz vor dem Haus des Wollhändlers. Dann brach er zusammen
     und krümmte sich auf dem schmutzigen Pflaster, während ihm Blut
     und Schleim aus dem Mund flössen.
    »Die Seuche! Er hat die
     Seuche! Der HERR steh uns bei: Die Seuche ist in der Stadt!«
    Dergestalt schrie ein
     Marktweib hinaus, was wir alle fürchteten. Für einen Moment
     standen wir da, als wäre uns der Blitz in die Glieder gefahren. Ich
     dachte nicht mehr an Lea, ich dachte nicht mehr an das Haus des Wollhändlers,
     ich vermochte an nichts und niemanden zu denken, als wäre meine Seele
     freigewaschen wie die eines Kindes am Tage seiner Geburt.
    Dann glaubte ich, dass sich
     die Hölle aufgetan hätte. Denn plötzlich gab es ein
     Schreien und Toben um mich herum, wie ich es nie für möglich
     gehalten hätte bei den Bürgern der guten Stadt Paris. Wie von
     Sinnen riefen Männer und Frauen, Alte und Kinder durcheinander,
     eilten umher wie Schafe, die den heulenden Wolf gehört hatten, und
     stießen sich gegenseitig zu Boden, warfen Karren um und trachteten,
     sich mit Fäusten und Stöcken den Weg freizukämpfen. Da
     jedoch alle in eine andere Richtung fliehen wollten, war es wie das Getümmel
     einer Schlacht, in der jeder gegen jeden focht. Manche strebten zur Kirche
     Saint-Sauveur an der Rue Darnetal, dem nächstgelegenen Hause GOTTES.
     Andere wiederum stürzten gerade aus dieser Kirche hinaus, als sei sie
     keine Zuflucht mehr, sondern eine steinerne Falle.
    Nur um den Bettler, der immer
     noch schrie, wenn auch zunehmend schwächer, tat sich ein leerer Raum
     auf. Glasigen Blickes starrte der Unglückliche um sich und hätte
     wohl flehentlich den Arm erhoben, wenn ihn die fürchterlichen
     Schmerzen nicht so zusammengekrümmt hätten, dass er nicht einmal
     zu dieser elenden Geste mehr fähig war. Er wälzte sich in Blut,
     Schweiß und schwärzlichem Kot und stieß mit jedem stöhnenden
     Atemzug seinen Lebensodem aus. Betäubt stand ich noch immer da und
     ließ mich von den in blinder Angst Fliehenden hin und her stoßen.
     Dann wandte ich den Kopf und blickte zu Lea hinüber. Die junge Jüdin
     hatte sich an den Rand des Brunnens geklammert und starrte mich an. Doch
     ihren Blick, aus dem Entsetzen sprach, wusste ich nicht zu deuten. Wollte
     sie, dass ich zu ihr kam, um sie aus diesem Pandämonium
     herauszuzerren? Oder forderte sie mich auf, dem Sterbenden beizustehen,
     dem niemand sonst sich näherte?
    Ich wusste selbst nicht, was
     ich tun sollte. Ich wollte Lea retten, außerdem plagte auch mich die
     Furcht vor jener schrecklichen Krankheit. Andererseits befahl mir mein
     Gewissen, mich als Christ zu erweisen, wollte ich nicht meine Seele endgültig
     an Satan verlieren. So stand ich noch ein paar Atemzüge lang reglos
     auf der Rue Darnetal, nur ein paar Schritte von dem mir wie eine rettende
     Festung erscheinenden Haus des Wollhändlers entfernt.
    Doch niemals werde ich
     erfahren, ob wohl mein christliches Gewissen — oder meine Furcht um
     Lea und mein eigenes, unwürdiges Leben in jenem inneren Ringen die
     Oberhand gewonnen hätte. Denn dem HERRN gefiel es, mir die
     Entscheidung abzunehmen.
    *
    Plötzlich spürte
     ich eine eiserne Faust, die sich von hinten auf meine Schulter legte. Dann
     hörte ich eine Stimme, die mir vage bekannt vorkam: »Haben wir
     dich, du falscher Mönch!«
    Ich wurde herumgerissen
     — und fand mich von vier Sergeanten umringt. Zwei von ihnen waren
     jene, die Meister Philippe und mir den toten

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